Wynton Marsalis – From The Plantation To The Penitentiary

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Wynton Marsalis – From The Plantation To The Penitentiary

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cover_web.jpgWenn der Name Wynton Marsalis fällt, geraten Jazzfans regelmäßig ins Schwärmen. Der am 18. Oktober 1961 als Sohn des Jazzpianisten Ellis Marsalis in New Orleans geborene Trompeter, Komponist und Bandleader gilt als einer der bedeutendsten Jazzmusiker seiner Generation. Zudem ist er einer der erfolgreichsten. Gut 50 Alben, darunter elf Einspielungen mit klassischer Musik, hat Marsalis veröffentlicht und davon über sieben Millionen Exemplare verkauft. Aber Marsalis, der als künstlerischer Leiter des renommierten Jazz At The Lincoln Center großen Anteil daran hat, dass der Jazz endgültig als etablierte Kunstform im Mainstream der amerikanischen Kulturindustrie angekommen ist, ist nicht nur ein begnadeter Musiker. Der neunfache Grammy-Preisträger ist auch ein durch und durch politischer Mensch mit klaren, oft unbequemen Ansichten und Botschaften. Die äußert er unter anderem in seiner Funktion als Friedensbotschafter der UN, die er 2001 übernommen hat. Seit dem Beginn seiner Karriere im Jahre 1980 bei Art Blakey’s Jazz Messengers hat Marsalis in jeder Dekade wenigstens ein „politisches“ Album aufgenommen, das der amerikanischen Gesellschaft einen Spiegel vorhielt. In den 80er Jahren bewegte der jüngere Bruder des Saxophonisten, Branford Marsalis, die Nation mit „Black Codes (From The Underground)“. In den 90ern entstand die komplexe Analyse der afroamerikanischen Leidensgeschichte „Blood On The Fields“, für die Marsalis – als erster Jazzmusiker überhaupt – 1997 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Mit seinem Album „From The Plantation To The Penitentiary“ setzt er nun die Tradition der politischen Alben fort.„America – the beautiful“ ist eine Illusion. Die Fassade zeigt schon lange hässliche Risse. Marsalis legt den Finger in offene Wunden. „Es ist seltsam, aber als Zivilisation scheinen wir nicht in der Lage, Probleme zu lösen. Was Amerika seiner afroamerikanischen Bevölkerung antut, wie Frauen behandelt werden, wie mit der individuellen Freiheit umgegangen wird, wie der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich begegnet wird, das alles ist eine Katastrophe. Und als atomare Supermacht haben wir auch versagt. Wir wissen nicht, wie wir mit anderen Ländern und Kulturen umgehen und wie wir Hunger und Armut in den Griff bekommen sollen. Wenn ich Amerika kritisiere, dann spreche ich nicht als Außenstehender mit erhobenem Zeigefinger: Ich bin Teil dieses Landes, Teil unserer Kultur. Ich will auch nicht moralisierend klingen nach dem Motto, ‚Ich sag euch jetzt mal, worin ich mich von euch unterscheide und wie ich alles besser machen könnte.’ Nein, ich kommentiere nur das, was ich sehe, unser Leben und unsere Kultur.“Das geschieht jedoch mit starken Worten. Im Titelstück, einer harmonisch und rhythmisch ambitionierten Suite, in der die erst 21 Jahre junge Sängerin Jennifer Sanon höchste vokaltechnische Ansprüche meistert, stellt Marsalis eine provozierende These auf. Danach sind die Afroamerikaner nie aus der Sklaverei entlassen worden, sondern direkt von den Plantagen ins Gefängnis gekommen, entweder, weil Rassismus, Armut und konsequente Benachteilung bei Bildung und Jobs eine Befreiung verhindert haben, oder weil unzählige Schwarze ganz konkret schon wegen kleiner Vergehen in den Knast geschickt wurden. Marsalis bezeichnet Gefängnisse als eine Industrie, die große Gewinne abwirft, erwirtschaftet von den Insassen, den modernen Sklaven.40993web.jpgIn dem musikalisch nicht minder anspruchsvollen „Find Me“, in dessen Verlauf sich der Trompeter und sein Partner am Saxophon, Walter Blanding, leidenschaftlich die solistischen Bälle zuwerfen, leiht Jennifer Sanon Amerikas Obdachlosen ihre Stimme. Bei „Love And Broken Hearts“ steht nicht nur Amerikas frauenfeindliche Unterhaltungsindustrie am Pranger („I ain’t no bitch and I ain’t your ho“), die stimmungsvolle Bar-Ballade ist auch ein ergreifendes Plädoyer für ein Comeback der Romantik im Verhältnis von Mann und Frau. Besonders gut gelungen ist auch die musikalische Umsetzung von Marsalis’ scharfzüngiger Kritik an den Auswüchsen des Turbokapitalismus in „Super Capitalism“. Angetrieben vom hektischen Drive von Carlos Henriquez am Bass, Ali Jackson Jr. am Schlagzeug und Dan Nimmer am Piano spiegeln Sanons explosive Worte „Give me this, give me that“ den Wallstreet-Alltag wider: Keine Atempause auf der Jagd nach dem großen Geld. „Der Dollar ist wichtiger als der Mensch“, schimpft Marsalis. „Nichts gegen Geld verdienen, es ist ja auch nicht falsch, ein Stück Kuchen zu essen. Wenn aber jemand 50 Stücke Kuchen isst und immer noch nach mehr schreit, stimmt etwas nicht.“

Die größte Ãœberraschung des Albums ist ohne Frage „Where Y’all At?“, ein Stück, das aus der reichen Jazztradition von New Orleans schöpft und in dem der bekennende Bush-Gegner in einem wütenden Spoken-Word-Auftritt („in New Orleans hat man immer schon in aus dem Stegreif erfundenen Reimen gesungen, lange bevor es Rap gab“) nach den Verantwortlichkeiten der politischen und geistigen Führung Amerikas fragt. „Wir werden von einem Mann geführt, der Religion als politisches Werkzeug einsetzt. Und was unsere mühsam erkämpften Bürgerrechte anbelangt, da dreht jemand ganz kräftig die Uhr zurück. Dazu konfrontiert man uns wieder verstärkt mit verstecktem oder ganz offenem Rassismus, etwa nach der Hurrikan-Katastrophe in New Orleans, als die von Afroamerikanern bewohnten Stadtteile viel länger auf Hilfe warten mussten als die von Weißen bewohnten. Dennoch bin ich Optimist. Die Menschen werden irgendwann aufwachen. Wenn uns die Katrina-Episode etwas über Amerika gelehrt hat, dann dass Menschen zum Handeln bewegt werden können, dass sie bereit sind zu helfen, wenn man sie nur ehrlich und aufrichtig informiert.“

40991web.jpgVor allem die Jugend gibt ihm Hoffnung für die Zukunft. Und so sind denn die fröhlichen und unbeschwerten Stücke auf „From The Plantation To The Penitentiary“, das kompromisslos swingende, spielerisch diverse 4/4-Takte auslotende Instrumental „Doin‘ Our Thing“ und die von Marsalis’ zehnjährigem Sohn und den elf Jahre alten Zwillingstöchtern von Walter Blanding inspirierte klassische Bebop-Ballade „These Are Those Soulful Days“ der Jugend gewidmet – mit der Hoffnung, dass sie es besser macht.

Dass die nächste Generation es musikalisch besser machen kann als Wynton Marsalis und sein wunderbares Quintett, darf allerdings bezweifelt werden. „From The Plantation To The Penitentiary“ ist nicht nur ein unnachgiebiges, aufrüttelndes politisches Bekenntnis, sondern auch ein faszinierendes akustisches Erlebnis von großer Virtuosität und kompositorischem Anspruch: Ein Meisterwerk, das Marsalis’ Ruf als einer der einflussreichsten Musiker und Komponisten der Gegenwart einmal mehr unterstreicht.

(EMI, Blue Note)

VÖ: 09.03.07

 

 

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