Charles Aznavour & The Clayton Hamilton Jazz Orchestra

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Charles Aznavour & The Clayton Hamilton Jazz Orchestra

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CharlesAznavour Lasst die Fanfaren schallen, die Trompeten erklingen: hier kommt Charles Aznavour, ein anderer, ein neuer Aznavour, ein Aznavour, der uns an den frühen Aznavour erinnert, bevor seine Gesangskarriere begann. Einer, der noch nicht seine eigene Stimme gefunden hatte und stattdessen Songs für andere Künstler komponierte. Die Stücke, die er für andere schrieb, hatten einen gewissen, ja einen ziemlich ausgeprägten und authentischen Jazz-Touch. Und jetzt wischt er alle Gerüchte über einen möglichen Rückzug ins Rentnerleben vom Tisch und kommt mit einem brillanten Paukenschlag zurück. Er singt aber keine neuen Songs; er singt seine alten Stück auf ganz andere Art und Weise. Und das ist wagemutiger als man zunächst meint, immerhin ist er nicht nur bereits 85 Jahre alt, sondern jeder, ob jung, ob alt, Männlein oder Weiblein, ob weiß oder farbig, alle kennen seine großen Klassiker auswendig. Und große Klassiker haben feststehende Wendungen, Orchestrierungen, Gitarrenlicks, so wie ein Walzer nicht ohne Violine auskommt – man kann einen solchen Klassiker nicht einfach so verändern, er ist gewissermaßen unantastbar.

Die Sache ist die: ein Charles-Aznavour-Song, der von ihm selbst gesungen wird, bekommt Flügel und hebt ab – wie seine eigene Tochter, an die er sich mit dem Stück A ma fille wendet, auch ihr eigenes, unabhängiges Leben lebt. Ein solcher Song gehört all jenen, die das Stück lieben – uns allen also, jenen, die den Song zu einem Teil ihres Lebens machen. Aznavours Stärke liegt darin, dass er ein Mann des Volkes zu sein scheint, kein abgehobener Dichter – seine Texte wirken nachhaltig, weil sie so trügerisch einfach sind, weil sie so unerwartet tiefgründig sind und wegen der Artikulation. Sein Satzbau hat einen gewissen Swing, um mit seiner Musik mithalten zu können.
Und deswegen, um so liebgewonnene Meilensteine wie etwa Comme ils disent, Il faut savoir oder auch das autobiographische La bohême in ein neues Licht zu tauchen, hat er es gewagt, Unverrückbares zu bewegen. Nichts ist so traditionsverpflichtet wie ein Paar Ohren. Sie trauern stets noch dieser allerersten Version nach, jener, zu der sie tanzten, weinten, liebten, bei der sie sich Romanzen hingaben oder in tiefster Verzweiflung wähnten. Und wenn man einen solchen Song neu aufnimmt, ist die Mission schon fast zum Scheitern verurteilt, egal, wie luxuriös man die Neuaufnahme in den besten Studios ausstattet, welche erstklassigen Studiomusiker daran beteiligt sind, wie sehr das Stück einen Schuss frisches Blut gebrauchen könnte oder welche brandneue Ausstattung und Technologie man benutzt: die Ohren sind so stur wie ein Esel. Es sei denn, man kann Wunder bewirken.
Als Charles zum ersten Mal die legendären Capitol Studios in Hollywood betrat, wusste er nur zu gut, welche berühmten Stimmen in diesem futuristischen Tempel widerhallten: die ziemlich realer Geister, namentlich die von Nat King Cole, Louis und Ella, Sinatra und Dean Martin. Erst jüngst war Diana Krall hier, deren Rhythmus von zwei Koryphäen bestimmt wird: John Clayton (Komponist und Double-Bass-Spieler) sowie Jeff Hamilton (Drums). Mit Sonnenbrille und dem Benehmen eines jugendlichen Rolling Stone gehen wir drei Häuserblocks weiter, zum Sunset Boulevard, wo Charles lachend bemerkt, dass auch sein Foto vielleicht eines Tages hier angeschlagen sein wird, neben all den großen Stars: „Ich will nicht angeben, aber es wäre doch toll, die Erfüllung eines Kindheitstraums, wenn da oben auch ein Franzose abgebildet wäre.“ Dies ist der neue, frische Geist Aznavours, der das gesamte Album durchzieht.
Den Ball ins Rollen gebracht hatte eine Begegnung mit dem Clayton Hamilton Jazz Orchestra, der musikalischsten aller Bigbands, der souveränsten, der mächtigsten ihrer Zeit. Sie blickt zurück auf fünfundzwanzig Jahre Erfahrung und genug Nominierungen und Grammy-Awards, um damit eine Villa in Malibu zu füllen. Saxophone, Trompeten, Posaunen, alles, was man sich an Bassklarinetten, Violinen, Celli und Violas nur so erträumen kann, musikalische Schwergewichter hinter jedem Notenständer… Sie erzeugen einen Sound, der die Phantasie schwacher Menschen und ihre zarten Träume wie ein Orkan mit sich trägt, der einen mit einem wuchtigen Schlag in den siebten Himmel oder die tiefste Hölle zu fegen vermag – an beiden Orten könnte Aznavour laut eigenem Bekunden Freunde wiedersehen. Um mit solch einem Ensemble standhalten zu können, braucht man Tiefe. Wie alle Bigbands, so ist auch diese äußerst ergeben, mit Leib und Seele, aber sie stellt eine unerschütterliche Bedingung: Man kann und muss ihr standhalten können.

Es war genau die richtige Atmosphäre für diese Songs, die so einmal kräftig durchgeschüttelt wurden. Sie sind nach wie vor so sehr auf den Punkt, dass man meinen möchte, sie wären eher aufgeblüht als dass sie grundlegend verändert worden wären. Sie zeigen plötzlich kunstvoll verwobene, unvorhersehbare Harmonien, sind Etüden der Akkuratheit, drängen sich aber trotzdem nicht, ebenso wenig wie die Songtexte, in den Vordergrund, sondern wissen sich diskret zu verhalten. So entsteht, wenn das Orchester sich zu voller Größe entfaltet, eine unglaubliche und verspielte Punktgenauigkeit, die genau abgepasst ist auf jenen Dreivierteltakt, der bei Aznavour geradezu angeboren zu sein scheint.
Das wahrhaft atemberaubende an diesem Abenteuer ist, dass alle Stücke auf diesem Album, selbst die neuen (Fais moi rêver, Je suis fier de nous, im Duett mit Rachelle Ferrell eingespielt) klingen, als wären sie bereits Klassiker, mit Melodien, die bekannt klingen, mit jenem Spirit, jenem unverwechselbaren Beat und der einzigartigen Lockerheit, jenem unbeschwerten Hopser, der an Kinder erinnert, die über einen Bachlauf springen. Eigentlich klingen sie wie vertraut und lange Zeit vermisst.
Dieses mit großer Fürsorge gestaltete Meisterwerk des orchestralen Jazz, das ebenso gut die kleinsten Nuancen ausloten kann, wie es mit großen Schritten voran schreitet, dieser messerscharfe Bigbandjazz, bei dem man jeden einzelnen Musiker herauszuhören meint, wird vom Zuhörer oft nicht genügend gewürdigt. Als hätten wir vergessen, dass der Jazz, das populärste aller intellektuellen Musikgenres, an erster Stelle eben das ist: intellektuell. Die Hohepriester des Jazz, die Fundamentalismus und Arroganz ineinander verwoben haben, haben einiges falsch verstanden. Für Aznavour ist Jazz eine fürstliche Musikform: das Erklingen einer mächtigen Orgel, wenn Jacky Terrasson am Piano in die Tasten langt, oder ein wilder Refrain von Jeff Clayton, Johns Bruder, oder das tadellose Spiel von Jeff Hamilton, der Drummer und Mitbegründer des Orchesters, oder jene so sorgfältig arrangierten Riffs, die perfekt angeordnet scheinen wie Kraniche, die in Formation am Himmel fliegen. Von diesem Projekt, seinem Ehrgeiz und seiner Leistung wird jeder überzeugt: ja, Le Jazz est revenu, der Jazz ist zurückgekehrt, und zwar mit einem Paukenschlag. Und Charles Aznavour ist dazu einmal mehr in Topform.