Wynton Marsalis – He and She

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Wynton Marsalis – He and She

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(EMI, Blue Note; VÖ: 20.03.09) Wie der Titel des nunmehr fünften Blue-Note-Albums von Wynton Marsalis schon nahelegt, behandelt He and She eines der ewig verlockenden und elementarsten Themen überhaupt: die Beziehung zwischen Mann und Frau. Dabei entwickelte der berühmte Trompeter, Komponist, Bandleader und Pulitzer-Preisträger nicht nur einfach eine Liebesgeschichte, vielmehr ist es eine Lebensgeschichte, ein bittersüßes Nachsinnen über die Vergänglichkeit des Lebens sowie über die Flüchtigkeit romantischer Liebe. Zeit spielt auf He and She natürlich eine zentrale Rolle: das unnachgiebige Fließen der Zeit über die Spanne eines Lebens, die zeitlichen Stimmungswechsel im Verlaufe eines Songs. Bei seinem ambitionierten Unterfangen, bei dem sich Spoken-Word-Passagen und Musik kontinuierlich abwechseln, hat Marsalis sein Quintett vor anspruchsvolle Aufgaben gestellt. Nichtsdestotrotz ist das von Humor und reichlich Swing durchwirkte Album voller Leichtigkeit und Eleganz – und zwischen den Grooves dringt auch immer ein wenig Weisheit durch.

He and She beginnt zwar mit einem Gedicht, doch war es Musik, die diese Worte letztlich erst hervorgebracht hat. Marsalis hatte sich aufmerksam Max Roachs „Jazz in ¾ Time“ und Duke-Ellington-Stücke wie „Lady Mac“ (aus „Such Sweet Thunder“) angehört, beides Arbeiten, bei denen das Walzertempo in einen Jazzkontext gesetzt worden war. Auf Roachs Albumklassiker gibt es mit „Valse Hot“ ein Stück, das, so Marsalis, „von Sonny Rollins stammt, ein Jazzwalzer, den ich schon gespielt habe, als ich noch auf der Highschool war“. Genau dieses Stück war der zündende Funke: „Ich bin über diesen Shuffle-Rhythmus ins Grübeln gekommen, der Walzer- und Marschrhythmen kombiniert. Das hat mich auf die Idee eines Albums mit Walzern gebracht. Ich hatte zuvor schon einige geschrieben – einen für ein Ballett von Twyla Tharp, der von dem Matisse-Bild The Dance inspiriert war. Bei meinen weiteren Erwägungen dachte ich daran, wie noch heute in Wien Walzer getanzt wird, und die Ballsaison ist nach wie vor ein gesellschaftliches Ereignis. Das hat mich auf diese Form des Liebeswerbens gebracht. Der Walzer ist ja eigentlich ein Balztanz und wurde einst sogar als frivol betrachtet. Heutzutage gilt er natürlich als manierlich. Folglich dachte ich über Frauen und Männer nach, über unsere Beziehungen.“

Als Marsalis im Sommer 2006 beim Jazzfestival in Marciac, Frankreich zu Gast war, begann er mit der Arbeit an einem Gedicht, das nun den Rahmen zu He and She bildet: „Ich stand jeden Morgen früh auf und arbeitete daran, und das ungefähr drei Wochen lang. Ich hatte einen Song geschrieben, aber eigentlich nur die Melodie von dem, der nun ‘Girls‘ heißt. Jeden Morgen versuchte ich herauszufinden, wie ich meine Ideen zusammen und auf eine Seite bringen könnte. Ich bin die unterschiedlichsten Möglichkeiten durchgegangen, um das Thema richtig zu treffen und genau das auszudrücken, was ich über Männer und Frauen sagen wollte.“

Bereits sein letztes Blue-Note-Soloalbum, „From the Plantation to the Penitentiary“, hatte Marsalis mit einem beeindruckenden Spoken-Word-Stück beendet: ein konzentriert inbrünstiger Wutausbruch, mit dem er sich nach der Katastrophe des Hurrikan Katharina an eine traumatisierte Nation gewandt hatte. Auf He and She ist die sonore Stimme von Marsalis wesentlich präsenter, wobei nahezu jeder Song durch seine Worte eingeleitet wird. Dazu bemerkt er: „Auf He and She hört man einen Mann reden, aber die Person, die universelle Wahrheit vermittelt, ist eine Frau.“

Die Spoken-Word-Passagen auf He and She sind für Marsalis die natürlichste Sache der Welt: „Gedichte laut zu lesen oder Blues in meinem Haus zu singen – ich bin mit all dem vertraut. Ich liebe zum Beispiel die Gedichte von William Butler Yeats. Ich gehe nun schon seit dreißig Jahren auf Tournee und habe immer irgendwelche Gedichtbände dabei, aus denen ich den anderen manchmal um ein, zwei Uhr morgens vorlese, wenn sie schon müde sind. Wir erzählen uns auch Geschichten. Wir reden und lesen ständig, ich brauche das. Manche Menschen sind ja nicht so gesprächig, besonders unter Musikern. Was mich betrifft, ich rede ständig, auch wenn mir die Jungs oft sagen, ich soll mal ruhig sein. Schon als Junge habe ich andauernd geredet. Reden fällt mir ganz leicht, spielen nicht so sehr.“

Yeats ist für Marsalis ein Maßstab der Dichtkunst – besonders Yeats‘ „Under Ben Bulben“, ein spätes Poem, in dem der irische Dichter im hohen Alter ganz offen über Sterblichkeit nachsann. Die Musik wiederum ist vor allem vom Dreivierteltakt des Walzers inspiriert, der sich aber auch in den Gedichten von Marsalis widerspiegelt. He and She handelt auf den ersten Blick von einem Paar, aber eigentlich kreist hier alles um drei Dinge: ein Mann, eine Frau und die Beziehung zueinander („1+1=3/You, me and you and me“). Auch bei verschiedenen Bildern taucht immer wieder die Zahl drei auf: „the moon, the desolate sky, and the road“ oder „a train, a banjo, and a chicken wing“. Dementsprechend sind auch die Arrangements gehalten. „‘Sassy‘ zum Beispiel ist ein um einen Halbton höher gesetzter Dreivierteltakt. In der Musik ist interessanterweise der physisch nächstliegende Ton der für Harmonien am weitesten entfernte – das ist genau so bei Männern und Frauen. Die nächsten Noten zum C sind Cis und das reine B. Spielt man sie jedoch zusammen, erzeugt dies einen dissonanten Klang. Die räumliche Beziehung straft die harmonische Beziehung lügen. Alle Songs sind hier in ungewöhnlichen und schwierigen Tonarten gehalten und stimmen doch überein. ‘Razor Rim‘ ist, was die Intention betrifft, der komplexeste Song und das hat was mit der Komplexität von Frauen zu tun. Ich wollte nicht einfach eine typisch langsame Ballade schreiben und damit sagen, dies ist ein Song über Frauen, ich wollte etwas mit mehr Komplexität und Ernsthaftigkeit.“

In seinem Gedicht, das sich durchs ganze Album zieht, evoziert Marsalis das Bild eines Countrybluesmusikers im freien Schaffensprozess, denn wie bei vielen anderen Arbeiten von Marsalis spielt auch auf He and She der Blues eine wichtige Rolle: „Das Gedicht handelt auch von der Aussöhnung der Gegensätze. Ein Mann und eine Frau ist die ultimative Aussöhnung auf der menschlichen Ebene, aber dieses Phänomen existiert in allen Aspekten des Daseins. Was die Musik betrifft, so ist der Blues die Aussöhnung von Gegensätzen. Er kommt in Moll und Dur daher und hat diesen Shuffle-Rhythmus, der, wie ich bereits sagte, Marsch und Walzer zugleich ist. Es gibt liebliche Songs mit einem tragischen Unterton und tragische Songs mit einem fröhlichen, treibenden Unterton. Wichtig beim Blues ist auch die Perspektive, das, was man Call-and-Response nennt. Man hat die Worte, die gesungen werden, und den Kommentar der Person, die antwortet, und natürlich beides zusammen – was wiederum drei ergibt.“

Der vielschichtige Ansatz, den Marsalis verfolgt, hat einmal mehr ein tiefgründig anspruchsvolles Werk generiert – und die Band muss sich bei so weitgreifenden Stücken wie „Razor Rim“ ganz schön ins Zeug legen. Aber Marsalis & Co. haben sichtlich Spaß daran, speziell bei den Songs, deren Abfolge die romantischen Höhepunkte einer Beziehung repräsentieren. Marsalis: „‘First Crush‘ etwa ist eine sehr blumige Improvisation mit vielen filigranen Elementen, ‘First Kiss‘ ist ein wenig tollpatschig, ‘The First Slow Dance‘ ist der romantischste von allen Songs – in Des – und ‘First Time‘ – der die aufregenden Umstände einer solch entscheidenden Begegnung reflektieren soll – ist sehr schwierig zu spielen. Ich habe den Song auch geschrieben, um mich mit Walter (Anm.: Walter Blanding. Tenorsaxophonist) zu messen und uns ein wenig zu fordern.“ „First Time“ ist auch ein Stück mit ausgesprochenem Latin Flair. „Unser Bassist [Carlos Henriquez] hat da seinen ganz eigenen, ernsthaften Ansatz, wenn wir afro-spanische Musik spielen. Wir spielen dann etwas Besonderes, Definitives, nicht irgendeinen Latin Groove.“

Bevor Marsalis mit seinem Quintett ins Studio ging, reisten sie nach North Hampton und spielten das komplette Material in ihrem angestammten Club Iron Horse live. Den Club besucht Marsalis schon seit Jahren, um dort vor Publikum neue Sachen auszutesten. Danach ging die Band ins Legacy Recording Studio von New York und nahm das komplette Album innerhalb von zwei Tagen auf. He and She wurde am Ende nur marginal überarbeitet.

Marsalis ist es mit seinem neuen Album gelungen, so weit voneinander entfernt liegende Dinge wie Walzer, Weiblichkeit und Wortschmiede in einer singulären Vision aufblühen zu lassen. Der größte Vorzug von He and She ist es vielleicht, dass es dem Album gelingt, ein vertrautes Thema auf aufregende und höchst unterhaltsame Weise zu variieren und in neues Licht zu stellen. Man könnte sich gut vorstellen, dass sich in diesem Album alle Liebesgeschichten ein wenig wiederfinden. He and She handelt letztendlich von uns. Was wiederum drei ergibt, was Wynton Marsalis sicherlich mit einem weisen Lächeln zur Kenntnis nehmen würde.