Vinicio Capossela – Marinai, Profeti e Balene

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Vinicio Capossela – Marinai, Profeti e Balene

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Vinicio Capossela - Marinai, Profeti e Balene Covershot (Ponderosa, VÖ: 20.04.2012)
Im Zentrum von Vinicio Caposselas künstlerischem Schaffen steht das Wort; unter seinen vielen Talenten nimmt das des Poeten seit jeher einen Sonderrang ein. Der Italiener ist ein Büchernarr. Er hat die Werke der Weltliteratur Seite für Seite verschlungen und über seine Begeisterung für die Sprache berühmter Literaten wie Geoffrey Chaucer, Louis-Ferdinand Céline und Oscar Wilde schon frühzeitig zum eigenen Schreiben gefunden. Inzwischen ist er selbst ein anerkannter Autor, mit exzellenten Dichtungen in seiner Muttersprache, seien es nun Romane, Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher oder Songtexte.

Dass Capossela das Spiel mit Worten liebt und kunstvoll beherrscht, ist in jeder Textzeile von “Marinai, Profeti e Balene” (“Seeleute, Propheten und Wale”) offensichtlich. Seine Magie besteht hier einmal mehr in der Fähigkeit, die Grenzen des herkömmlichen 3-Minuten-Songs zu überschreiten und mit einigen wenigen Metaphern ganze Welten zu erschaffen. Diese Welten bevölkert er überaus spannend mit Dämonen und Schatten, verlorenen Seelen und Versagern. Anregungen für das aktuelle Doppelalbum fand Vinicio in Romanklassikern über das Meer, die Seefahrt und bei all den Kreaturen, denen man unterwegs begegnen kann, egal ob es sich um menschliche, tierische oder mythologische Wesen handelt. So wurde beispielsweise der Opener von CD1 unverkennbar von Herman Melvilles unvollendetem Roman “Billy Budd” und dessen Hauptfigur, dem Matrosen auf einem Kriegsschiff, inspiriert. Mit “Lord Jim” ist natürlich der gleichnamige Erste Offizier aus Joseph Conrads Meistererzählung gemeint. Und die in anderen Songs vorkommenden Sirenen (“Sirens”), der blinde Prophet Teiresias (“Tell me, Tiresias”) oder auch die Pleiaden (“The Pleiades (The Seven Sisters)”) gehen auf die griechische Mythologie der Antike bzw. Homers Seefahrer-Epos “Odyssee” zurück.
Natürlich ist es schade, dass die meisten Zuhörer hierzulande Vinicio Caposselas Songlyrik nicht verstehen werden, doch keine Angst, auch ohne Italienischkenntnisse kommt man voll auf seine Kosten. Je nach Textinhalt hält der 46-jährige nämlich die passende Musik bereit, und die begeistert sicher auch den Sprachunkundigen. Das Spektrum des Albums erstreckt sich von der Folklore aus Caposselas Heimatregion Emilia-Romagna bis zum Schieflagen-Sound eines Tom Waits. Dazwischen erklingen Stücke mit Jazz-, Cabaret-, Schlager-, Rock- und Klassikelementen, denen allesamt ein unwiderstehlicher Zauber innewohnt.
Das Licht der Welt erblickte Vinicio Capossela 1965 in Hannover, doch schon kurz nach der Geburt ging seine Familie mit ihm zurück nach Italien. Musikalisch wurde er dort zunächst vom volkstümlichen Liedgut in Kampanien an der Westküste der Stiefelhalbinsel geprägt, später entdeckte er die Welt der angloamerikanischen Singer/Songwriter für sich. Die ersten Einspielungen unter eigenem Namen standen ganz im Zeichen von On-the-road-Mythen, wie man sie in den Büchern von Jack Kerouac und Charles Bukowski antrifft. Zudem war damals auch der Einfluss von Louis Prima und Caposselas Landsmann Renato Carosone (“Tu vuò fà l’americano”) schon spürbar. Mit den Jahren wurden dann die eigenen Wurzeln stetig wichtiger, nahm die heimische Musiktradition immer breiteren Raum ein.
Bis dato hat “Italiens faszinierendster Musikreisender”, so das britische Musikmagazin Mojo, insgesamt dreizehn Alben veröffentlicht. 1990 erschien sein Debüt “All’una e trentacinque circa”, für das es gleich den angesehenen Tenco-Preis gab. Auf “Il ballo di San Vito” begann 1996 Vinicio Caposselas fruchtbare Zusammenarbeit mit dem New Yorker Gitarristen Marc Ribot, die bis heute andauert. Erwähnenswert wären darüber hinaus auch noch das auf Platz eins der italienischen Charts eingestiegene Album “Ovunque proteggi” von 2006 sowie das 2008 mit Platin veredelte “Da solo”. Mit “Marinai, Profeti e Balene” legt Capossela jetzt eines der ambitioniertesten Werke seiner Karriere vor. Bleibt nur zu hoffen, dass “Italiens größtes Geheimnis” (Sunday Times) damit endlich auch bei uns gelüftet wird.