QUATUOR EBÈNE – Fiction

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QUATUOR EBÈNE – Fiction

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QuatuorEbene_Fiction_Covershot (Virgin Classics, VÖ: 19.11.2010)
Wer möchte nicht hin und wieder aus seiner gewohnten Umgebung, aus notierten Musikwerken ausbrechen, wenn er kann? Das Quatuor Ebène kann! Mit dem Album FICTION, der dritten Einspielung für Virgin Classics, erweitert das französische Streichquartett seinen Fokus mit einem Panoramablick auf die emotionalisierende Welt der akzentuierten Töne und rhythmischen Leidenschaften. Den darf freilich nur wagen, wer sein Heimatverständnis längst gefunden hat. Man kennt die vier jungen, französischen Musiker als ungestümes und leidenschaftliches, der DNA der Kammermusik zugetanes Ensemble. Haydn, Bartók, Ravel, Debussy, Fauré, Brahms, Bach-Choräle – meisterhafte Werke entschlüsseln der Cellist Raphaël Merlin, der Bratschist Mathieu Herzog und die Geiger Pierre Colombet und Gabriel Le Magadure mit meisterhafter Frische und Offenheit.

Ihre Klassikauffassung wird gelobt, weil sie kühn ist. Ihr Gespür für spielerische Nuancen und nonchalante Improvisationen machen FICTION zu einem Destillat, dessen Veredelung sorgsam vorbereitet wurde. Durch mehr als 120 Konzerte pro Jahr seit der Gründung des Quatuor Ebène 1999. Durch unzählige Probenstunden, in denen Schubert öfter auf Miles Davis traf. Die Adaption von Jazz-Werken wie Wayne Shorters Footprints ist entsprechend Herzensangelegenheit und Realitätsübung zugleich. Fernab von prätentiöser Coolness. Klischees und Vorurteile wurden aus dem Weg geräumt, bevor die vier Musiker einen Blick auf Brad Mehldaus Unrequited wagten, und aus dem Pianostück mit Sopran-, Alt- und Tenorstimmungen geschmeidige Interaktionen zwischen den Akkorden formten.
Das Präludium von FICTION, das man diesmal getrost als „Opener“ der neuen Einspielung des Quatuor Ebène bezeichnen kann, nimmt ein Paradoxon zum Gegenstand und Leitmotiv. Es ist ein Faszinosum, dass Geigen in Mythen, Volkssagen und mittelalterlichen Gravierungen mit Tod und Teufel assoziiert wurden. Paradoxerweise, weil die Geige gleichsam das engelsgleicheste Instrument sein kann. Irgendwo zwischen der Schwüle von orientalischem Bauchtanz, der Staubigkeit eines griechischen Dorffestes, instrumentalem Feuer und Schwefel, taucht der Teufel als MC, als Master Of Ceremonies auf. Zunächst bedrohlich, dann von grazilem Charme, bis er schließlich mit Spott und Hohn das Finale des Tanzes befiehlt, der Misirlou heißt. Die Komposition, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt durch ihr Auftauchen in Quentin Tarantinos Filmhit Pulp Fiction kultartige Verehrung findet, steht nicht zufälligerweise am Anfang von FICTION. Sie ist die furiose Freiheitsdeklaration des Streichquartetts Quatuor Ebène, die sprichwörtlich umgesetzte Fiktion, die Formung einer zusätzlichen Identität.
Die Song-Auffassung der Ebènes ist dank ausgefeilter Arrangements nie bloß geschmäcklerisches Kunsthandwerk. Come Together lässt den Teufel als MC wieder auftauchen. Diesmal hockt er wie weiland die Verzerrerpedale an John Lennons Füßen, auf den Schultern Colombets und gebietet ihm, die Geigensaiten im instrumentalen Mittelteil des Beatles-Songs zu einem infernalischen Crescendo zu streichen. Streets Of Philadelphia nimmt die Songfährte in kühler Eleganz wieder auf. Mit engelsgleicher Anmut führen die Geigen aus dem Song von Bruce Springsteen, der von ungelöster Spannung lebt, sowohl in harmonischer wie auch rhythmischer Hinsicht. Mathieu Herzog setzt darin mit seinem Gesangsdebüt einen flehenden Kontrapunkt zu den vier Gastsängerinnen, die auf FICTION glänzen: Stacey Kent entführt in Jobims Corcovado im sinnlichen Bossa Nova-Schritt an den Zuckerhut, Luz Casal hebt deren Leichtigkeit in einer erdig-spanischen Version von Amado Mio auf, Fanny Ardant tritt in Lilac Wine die Nachfolge von Nina Simone an, und Natalie Dessay duelliert mit Mathieu Herzog in einer Version des Wizard Of Oz-Klassikers Somewhere Over The Rainbow. Überhaupt scheint das Quatuor Ebène eine eingeschworene Cineasten-Clique zu sein. Man spürt in der Streicherversion des Out Of Rosenheim-Kernstücks Calling You förmlich das Blut Marianne Sägebrechts sehnsuchtsvoll rasen. Pierre Colombet setzt derweil solistische Farbakzente in den Kontext der Erinnerungen an den Filmmonolithen von Percy Adlon. Smile, aus Charlie Chaplins Film Moderne Zeiten, ist eine musikalische Epochenreise. Das Filmprojektorrattern dient dabei als rhythmisches Grundgerüst, dem der a cappella-Einstand des kompletten Quartetts folgt, bevor Zeiten gestreift werden, in denen Kaffeehaus-Jazz und Swing zur Konjunktur gehörten. Schlagzeuger Richard Héry erfüllt dabei seine Rolle als rhythmischer Fundamentgeber des FICTION-Projekts mit perkussiver Feinmotorik, die dem Dynamikverständnis des Streicherensembles genauso Rechnung trägt, wie sein hörbares Streben nach Platz zwischen den Noten.
Standards und Songs dienen im Selbstverständnis des Quatuor Ebène nicht als bloße Vorwände für Improvisationen. Die Adaptionen von Filmmusiken und Jazz-Kompositionen unterstreichen vielmehr die musikalische Vielseitigkeit des Streichquartetts, dessen studentische Erfahrungen auch auf Jazz-, Pop- und Rockgruppen fußten. „Crossover“ ist ein vielgenutzter Konsensus respektive ein gern zitierter Euphemismus, wenn der höchst unterschiedlich motivierte Freiheitsdrang von Musikern in ein vermeintlich verlockendes Logo-Mäntelchen gepresst werden soll. FICTION ist weder Grenzüberschreitung noch das Testament von vier Borderlinern. Wessen musikalische Weltanschauung nie an Genregrenzen halt machte, muss logischerweise auch keine überwinden, um dem allzu menschlichen Fortschrittsdrang gerecht werden zu können. Mit dem elektrisierenden Pulsschlag eines Jazzers kann nämlich durchaus die Präzision in der Interpretation des Werks eines großen Komponisten gesteigert werden. Addiert man dazu noch die spielerische Lässigkeit, mit der FICTION umgesetzt wurde, darf man einem Ensemble lauschen, das sich ein eigenes musikalisches Idiom schuf. Jenseits der Konventionen.