Mário Laginha Trio – Mongrel Chopin

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Mário Laginha Trio – Mongrel Chopin

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Laginha (edel Content, VÖ: 30.03.2012)
Frédéric Chopin soll ein begnadeter Improvisator gewesen sein. Der Geist der Improvisation ist bis heute in seinen Kompositionen spürbar. Sie zu wahrem Leben zu erwecken, bedarf es echter Improvisatoren. Der portugiesische Pianist Mário Laginha ist ein solcher Zauberkünstler, der nicht nur einfach repetiert, was er vom Notenblatt abliest, sondern die Unumkehrbarkeit der Zeit aufhebt und seine Hörer wie in einer Rückblende Bekanntschaft mit dem großen polnischen Komponisten machen lässt. Egal ob man mit dem Gesamtwerk des Romantikers vertraut ist oder nicht, wenn Laginha diese Nocturnen, Präludien, Fantasien, Walzer, Scherzos, Balladen und Etüden erklingen lässt, fühlt es sich in jedem Fall an, als würde man ihnen zum ersten Mal begegnen. Auf spektakulär unspektakuläre Weise macht er Chopin zu einem Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts, der gar keiner Übersetzungen in den Jazz bedarf, um doch zu hundert Prozent Jazz zu sein.

Es gibt ja bekanntlich schon Tausende von Versuchen, Chopin in den Jazz einzugemeinden. Die wenigsten gingen wirklich glücklich aus. Viele davon hinterließen den fahlen Nachgeschmack ungewollter Musikdidaktik. Mário Laginha hingegen will und muss nichts beweisen. Ihm geht es weniger um Einverleibung oder Aneignung als um Teilhabe. Er braucht nicht mehr als ein Klavier, einen Bass und ein Schlagzeug, um ein ganzes Universum in Bewegung zu versetzen. Chopins Klassiker sind das Gravitationszentrum, um das Laginha Galaxien seiner eigenen Imagination kreisen lässt.
Jazzkennern ist Laginha seit fast 20 Jahren als kongenialer Partner der portugiesischen Sängerin Maria João ein Begriff, gemeinsam haben sie bislang zehn Alben aufgenommen. Wie bei dem Duo Hände und Stimme zu einer einzigen künstlerischen Identität verschmelzen, ist pure Magie. Dem Pianisten gelingt es, in seinem Spiel das Timbre der Sängerin vorwegzunehmen und nachhallen zu lassen, während Joao auf jede noch so kleine Nuance in Laginhas Intonation reagiert. Auf „Mongrel Chopin“ erleben wir den Pianisten nun in einer ganz anderen Konstellation, aber sein Spiel ist auch in diesem Trio von einer zauberhaften vokalen Poesie und lässt nicht selten Stimmen erahnen. Er ist ein Impressionist, für dessen künstlerisches Selbstverständnis die folkloristischen Traditionen seines Landes eine wichtige Rolle spielen. Und er ist auch ein Romantiker, der den melancholischen Seiten des Lebens stets hoffnungsvolle Perspektiven abzugewinnen versteht.
In Laginhas Beschäftigung mit Chopin fließen unterschiedlichste Aspekte und Färbungen seiner bisherigen Laufbahn ein. So hat der Portugiese eine Reihe von Film-Soundtracks geschrieben, in denen er lernte, Bilder adäquat in Töne zu übersetzen. Eine Fähigkeit, die ihm auf „Mongrel Chopin“ zugute kommt, klingen doch manche seiner Variationen wie mediterrane Fassungen von Gemälden Caspar David Friedrichs. Er komponierte Orchester Stücke, spielte mit Madredeus-Gitarrist José Peixoto in der Band Cal Viva und erforschte gemeinsam mit Maria João die Beziehungen zwischen portugiesischer Kultur und asiatischen bzw. lateinamerikanischen Einflüssen. 2002 näherten sich Laginha und João unter dem Titel „Undercovers“ zudem Originalen von Sting, Tom Waits, Björk, U2 und anderen Pop-Größen.
Von Anfang an war Laginha auch daran interessiert, offene und verborgene Aspekte der Verbindung von Jazz und Klassik aufzudecken. Bereits in den achtziger Jahren gab er regelmäßig Duo-Konzerte mit dem Konzertpianisten Bernardo Sassetti. 1991 schrieb er für die Philharmonie Hannover das Orchesterstück „Lobos, Raposas e Coiotes“, und 2004 trat er mit der Lisboa Sinfonietta auf. Zwei Jahre später nahm er unter dem Titel „Songs And Fugues“ ein viel beachtetes Soloalbum auf, das seine Präsenz in den beiden Welten von Jazz und Klassik manifestierte.
Der Begriff Mongrel bedeutet ungefähr dasselbe wie Mischling, also eine Kreatur oder ein Gebilde mit gemischter Herkunft. „Mongrel Chopin“ klingt wie die Quintessenz aller Erfahrungen, die Mário Laginha in seiner bisherigen Laufbahn gemacht hat. Zunächst einmal ist diese Trio-Platte, auf der er mit seinem Bassisten Bernardo Moreiro und dem Schlagzeuger Alexandre Frazao zu einer ebenso symbiotischen Einheit findet wie mit Maria João, ein höchst emotionales Statement, das keiner weiteren Erklärung bedarf. Darüber hinaus ist es jedoch auch der überzeugende Beweis, dass Begrifflichkeiten wie Jazz, Pop, Klassik und Weltmusik nicht mehr zeitgemäß sind. Was ist im virtuellen Zeitalter, in dem wir Zugriff auf alles haben, schon klassisch? Wo ist der Widerspruch zwischen „klassisch“ und „populär“? Und welche Musik wäre nicht von dieser Welt? Mário Laginha ersetzt diese merkantilen Begriffsrelikte durch ein einziges Wort, das seinem Spiel die Kraft und die Leidenschaft gibt: authentisch!