Wayne Shorter Quartet – Without A Net

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Wayne Shorter Quartet – Without A Net

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WayneShorter_WithoutANet_Cover_web (EMI Blue Note, VÖ: 01.02.2013)
Guter Jazz, also richtig guter Jazz, ist und bleibt ein Drahtseilakt, immerzu gut für Volten und Wendungen, die den Atem stocken lassen. Der amerikanische Jazzkritiker Whitney Balliett bezeichnete einst die hohe Kunst des Jazz als „the sound of surprise“ – und „Without A Net“ ist ein wahrlich schwindelerregendes Album voller gelungener Kunstgriffe. Allein die kaum zu erwartende Rückkehr der Jazzlegende Wayne Shorter ist eine riesige Überraschung, die schon für einige Schlagzeilen in der Jazzwelt gesorgt hat.
Auf „Without A Net“ beginnt Shorters hochkarätig besetztes Quartett jedes Stück in einer Sphäre völliger Offenheit und Rücksichtnahme. In Anbetracht des Raums zwischen den Tönen spürt man, dass die Musiker einander zuhören; sie bewegen sich graziös miteinander. Das gemeinsame Unterfangen befördert Shorter geradezu ins Unbekannte, mal erschafft er ein Gedicht aus Drehungen und Schnörkeln, mal wagt er sturzartige Sprünge und saxophonistische Wendungen, die jegliche Notation unmöglich machen. Dabei ist er nie zu waghalsig, ist kein versponnener Revoluzzer, der seine eigenen Regeln erstellt – er ist einfach nur von Neugierde getrieben, will sehen, wohin ein kleines musikalisches Motiv ihn führen kann. Diese Neugierde ist ansteckend: Seine Begleiter wagen sich ebenfalls vor, sie teilen seine Geheimnisse.

Diese Art der Bewegung – dass die Suche eines Musikers die Neugierde der anderen auslöst – war schon immer charakteristisch für die Musik von Wayne Shorter, angefangen bei seinen Zeiten mit Art Blakey bis hin zu den klassischen Aufnahmen für Blue Note, seine Teilnahme am Miles Davis Quintet in den 1960ern, bei Weather Report ebenso wie in einer Reihe außergewöhnlich einfallsreicher Soloalben. Diese Tradition lässt sich einerseits auf seine Kompositionen zurückführen – rhapsodische Melodien, die die Landschaft des Hard Bop nachhaltig prägten – andererseits fußt es auf der Art, wie er sich in seinen Improvisationen den Melodien annähert.
„Was kommt nach ‘Es war einmal …’?” Shorters Frage ist beides, eine rhetorische und eine ernst gemeinte. „Wenn wir rausgehen, um zu spielen, kennen wir die Antwort nicht. …Das Notenpapier ist dazu da, um uns daran zu hindern, nicht dasselbe zu spielen wie beim letzten Mal. Also hören wir zu. Wir hören zu und warten darauf, was passieren könnte.”
Mit „wir“ meint Shorter sein langjähriges Quartett, bestehend aus dem Pianisten Danilo Perez, dem Bassisten John Patitucci und Drummer Brian Blade. Die Musiker, die seit mehr als zwölf Jahren gemeinsam arbeiten, haben sich zu einer der ungewöhnlichsten Verbünde der Jazzwelt entwickelt: Es ist ein Ensemble, dem nicht nur das übervolle Buch voll klassischer Kompositionen ihres Leaders absolut geläufig ist, sondern das auch seine Neigungen und flüchtigen Verweise kennt, und weiß, wo er gerne mal abschweift. Die aufs Gehör konzentrierte Orientierung ist eine sich stetig erneuernde (und höchst ausgefeilte) Energiequelle; sie verwandelt normale Songs in Abenteuer, die einem an Herz und Nieren gehen. Von dieser schieren Kraft sind selbst die schwerfälligsten Jazzkritiker hingerissen: Die jüngsten Kritiken von Shorters Liveauftritten überschlagen sich nahezu in Superlativen. So schwärmt die englische Tageszeitung The Guardian von der Band als „handwerklich perfekteste, optimal aufeinander abgestimmte und furchtlos abenteuerliche, kleine Jazzcombo unseres Planeten, die […] die Hoffnung der Menschheit auf Harmonie zelebriert.“
„Without A Net“ enthält Konzertmitschnitte, die während einer Europatour 2011 aufgezeichnet wurden. Einzige Ausnahme ist ein langes neues Stück, “Pegasus”, mit den Imani Winds Bläsern als Gäste, das in der Disney Hall in Los Angeles aufgenommen wurde. Shorter sagt über die Aufnahmen: „Sie bieten eine Zusammenstellung all dessen, wohin wir uns in den letzten Jahren bewegt haben.“ Im Laufe ihrer Entwicklung hat die Band den Schwerpunkt von individuellen Soli verlassen und sich stattdessen auf die Entwicklung einer gemeinsamen Erzählebene konzentriert, in der alle Stimmen helfen, die Handlung voranzutreiben. „Blakey hat immer gesagt: ‚Erzähl mir eine Geschichte‘, und darum geht es im Grunde genommen. Das ist der Unterschied: Spielt man ein Instrument, oder spielt man das, wonach man sich sehnt? Wenn es nur darum geht, ein Instrument zu beherrschen, kann das Ergebnis ganz schön langweilig sein. Aber wenn man den größeren Rahmen mit einbezieht, darüber nachdenkt, was man meint, was gehört werden sollte, oder was man sich für die Menschen in ihrem Leben wünscht, dann können die Dinge sich ändern … Manchmal, wenn wir spielen, drehe ich mich um und schaue Danilo an, und er spielt etwas wunderschönes, packendes, einen sehnsuchtsvollen Ton – dann greifen wir das alle auf, einfach so, und versuchen, diese neue Richtung auszuloten.”
Der Albumopener ist “Orbits”, ein Stück von Shorter, das erstmals 1967 vom Miles Davis Quintet auf Miles Smiles aufgenommen wurde. Gleich mit dem ersten Schlag erweist sich dieses mitreißende Stück als vor Selbstbewusstsein strotzende Rhythmusstudie ohne Rücksicht auf Verluste. Bevor auch nur einer der Musiker solo zu Wort kommt, entspinnt sich ein engmaschiges perkussives Geflecht – das Ergebnis ist eine nahezu metaphysische Diskussion in der Gruppe, die das Original von Davis geradezu in den Schatten stellt. „Ich meine ja, dass nichts jemals wirklich zum Ende kommt“, lacht Shorter, als er darauf angesprochen wird, warum er sich eines lange vernachlässigten Songs aus seinem Fundus besinnt. „So gesehen können wir jedes Mal, wenn wir jemandem begegnen, etwas Neues kreieren. Alles, was gesagt worden ist, ist offen für Veränderungen – das eröffnet neue Horizonte. Wir sprechen darüber nicht in Worten, aber es ist Teil des Dialogs, den wir musikalisch umsetzen.”
Dank der offenen, konversationshaften Dynamik der Band blühen alle sechs neuen Stücke von Shorter auf „Without A Net“ nahezu auf. Es ist, als schriebe er für Songs wie “S. S. Golden Mean” nur das Gerüst, in der Erwartung, dass die Band mit ihren stets neue Formen annehmenden Ideen diesen Song formvollendet. In den letzten Jahren hat Shorter sich ganz der Weiterführung von langen Stücken gewidmet, darunter sind Ausführungen von Ideen, die er erstmals im Rahmen großer Kompositionen entwickelt hatte, etwa das faszinierende, schwungvolle Klanggedicht „Myrrh”. Shorter erklärt, er habe auch an einigen eigenständigen Stücken gearbeitet, und erwähnt in diesem Zusammenhang „Starry Night”, eines seiner Lieblingsstücke. „Dieses Stück handelt von Dizzy, genauer gesagt von ‘Manteca’ und wie man Brücken schlägt zwischen den Kulturen. Mich inspirierte sein Wagemut. Ein kreatives Individuum zu sein ist, finde ich, immer eine Herausforderung, und man muss eine Art Konstante finden. In der Natur sieht man, dass die Essenz der Dinge bewahrt bleibt. Man darf sich nicht auf das Vergängliche versteigen. Das bezieht sich auch auf die Musik: Wir versuchen, das Beste der Klassiker als eine Art Licht zu nutzen, die den Weg ins Ungewisse erhellt.”
Auf dem Album befindet sich zudem eine radikal überarbeitete Version seines Stückes „Plaza Real”, das er erstmals mit Weather Report für deren Album Procession aufgenommen hatte, sowie eine furiose Interpretation des Titelsongs „Flying Down To Rio“ des gleichnamigen Films aus dem Jahr 1933, in dem Fred Astaire und Ginger Rogers erstmals gemeinsam auf der Leinwand zu sehen waren. Als großer Kinoliebhaber, so Shorter, habe ihn der Song verzaubert, als er den Film auf DVD gesehen hatte. „Max Steiner [der Komponist] hat bei mir mit dem Stück voll ins Schwarze getroffen. Es birgt eine ganze Geschichte in sich und zieht die Noten mit sich wie in einem Sog. Ich sehe den Amazonas vor mir, den Regenwald, und höre Folksongs aus längst vergangenen Zeiten.”
Der Albumtitel entstand aus einem Gespräch mit der befreundeten Schauspielerin Vonetta McGee. Sie besuchte seine Show im Yoshi’s in San Francisco, der einzige Club in den USA, in dem seine derzeitige Band bislang live gespielt hat. „Wir kennen uns, seit wir 15 oder 16 sind. Als sie wieder ging, sagte sie: ‘Weißt du was? Ihr Jungs spielt ohne Netz und doppelten Boden.’“ Dieses Bild blieb hängen, und als er die Woche darauf mit seiner Frau und einigen Wissenschaftlern des Wafe Forest zusammenkam, um über den Regenwald zu reden, „wiederholte meine Frau, was Vonetta gesagt hatte, und sie entschieden sofort, dass das der Albumtitel sein müsse, ohne auch nur einen Ton gehört zu haben.“
Wayne Shorter, der im kommenden Jahr 80 wird, ist ein bislang unbekannter neuer Typus eines Jazz-Weisen. Wo die meisten anderen Musiker sich damit begnügen, Auszeichnungen für ihr Lebenswerk und Ehrendoktorwürden entgegenzunehmen, scheint er inmitten der schöpferischsten Phase seiner Karriere zu sein, und kreiert intensive Improvisationen, die im Jazz unserer Zeit ihresgleichen suchen. Und das soll, in Anbetracht seiner Karriere, etwas heißen: Shorters erste Aufnahmen für Blue Note entstanden 1959, als er Mitglied von Art Blakeys Jazz Messengers war. In den frühern 1960ern wurde er vom Labelgründer Alfred Lion als Solist unter Vertrag genommen; er begann seine Solokarriere parallel zu seinem Engagement in Miles Davis’ bahnbrechendem Quintett. Zwischen 1964 und 1970 veröffentlichte Shorter eine Reihe von Alben auf Blue Note (darunter Night Dreamer, Juju und Speak No Evil) – sie sind bis heute bekannt als einzigartige kompositorische Höhepunkte des Jazz. Seitdem hat er kontinuierlich vielschichtige und zugleich wunderbar lyrische Musik geschrieben – sein Album Alegria (2004) gewann den Grammy als bestes Jazz Instrumental Album. Gleichzeitig hat er den gruppendynamischen Sound seiner Band weiterentwickelt.
Shorter legt keinen besonderen Wert darauf, auf die „guten alten Tage“ zurückzuschauen, dafür ist er viel zu sehr im Hier und Jetzt verhaftet. Aber selbst er findet, dass seine Rückkehr zu Blue Note, wo er zahllose künstlerische Triumphe erlebt hat, etwas ganz Besonderes ist. „Für mich bedeutet Blue Note, dass hier Künstler zusammenkommen, die immer für eine Ãœberraschung gut sind. Ich höre Alfred Lion noch sagen: ‘Gib nicht alles preis, es muss geheimnisvoll bleiben.’ Und nach der zehnten Aufnahme sagte er: ‘Machen wir noch eine Aufnahme? Und Blakey, kannst du das noch fetter machen?’ … Es ist doch unglaublich, wenn man darüber nachdenkt, dass die Ziele von Alfred Lion auch heute noch Gültigkeit besitzen. Das übertrug sich auch auf seine Nachfolger, auf Bruce Lundvall und Don Was, auf jeden, selbst auf Anwälte. … Das ist ebenso einzigartig, wie die Musik es ist. Wenn man etwas so zielgerichtet tut, und dabei respektvoll ist, dann nimmt es mal für mal Fahrt auf und schließlich kann man damit den Zeitgeist der ganzen Welt beeinflussen.“

Without A Net erscheint am 1. Februar 2013, geschlagene 43 Jahre nach Wayne Shorters letztem Album auf Blue Note Records.