Sainkho Namtchylak – Like a Bird or Spirit, not a Face

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Sainkho Namtchylak – Like a Bird or Spirit, not a Face

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SainkhoNamtchylak_Cover (Ponderosa, VÖ: 26.02.2016)

Im Zentrum von Sainkho Namtchylaks Musikuniversum steht fraglos die Tontradition ihrer Heimat Tuwa. Die Folklore der zur Russischen Föderation gehörenden autonomen Republik nahm sie zum Ausgangspunkt für ihr künstlerisches Schaffen, dorthin kehrt sie im Verlauf ihrer Karriere immer wieder zurück. Daneben sucht sie seit jeher aber auch den Austausch mit fremden Klangkulturen sowie Kollegen aus aller Herren Länder. Neugierig und offen für Anregungen kooperierte die Asiatin zum Beispiel bereits mit Harfenist Andreas Vollenweider aus der Schweiz, dem österreichischen Avantgardisten Christian Muthspiel, Freejazzer Kang Tae Hwan aus Südkorea, dem amerikanischen Improvisationsmusiker Ned Rothenberg, Elektronikspezialist Dickson Dee aus Hongkong und dem Moscow Composers Orchestra.

Fürs jüngste Album schwebte Sainkho eine Begegnung mit nordafrikanischen Musikern vor. Als sie Produzent Ian Brennan (Lucinda Williams, Bill Frisell, Flea, Jovanotti) von der Idee erzählte, schlug der spontan Mitglieder von Tinariwen vor. Der Kalifornier hatte kurz davor bereits mit der Band aus Mali zusammengearbeitet und war für die Produktion von deren Album “Tassili” mit einem Grammy ausgezeichnet worden. Er konnte sich sofort vorstellen, dass Sängerin Sainkho, Bassist/Gitarrist Eyadou Ag Leche und Perkussionist Said Ag Ayad wunderbar miteinander harmonieren würden.

Ihr Zusammentreffen fand dann schließlich in Frankreich statt. Das Schreiben der Songs und deren Live-Aufzeichnung (fast ganz ohne Overdubs) nahm gerade einmal zwei Tage in Anspruch, in diesem rekordverdächtigen Zeitraum entstand im Studio so viel spannendes Material, dass es glatt für ein Doppelalbum gereicht hätte. Eine echte Ad-hoc-Produktion, die die Magie des Augenblicks und das Funkenschlagen zwischen den beteiligten Musikern zu nutzen weiß.

Obwohl Sainkho und die beiden Tinariwen-Instrumentalisten aus derart unterschiedlichen Erdregionen stammen, verstanden sie sich auf Anhieb bestens. Das mag daran liegen, dass sie alle Nomadenvölkern angehören (nämlich dem Turkvolk bzw. den Tuareg) und die damit einhergehende Mentalität, d.h. die Rastlosigkeit und den Unwillen zur Sesshaftigkeit teilen. Beide Völker müssen ums Ãœberleben und ihre Unabhängigkeit kämpfen. Dazu kommt, dass die auf den ersten Blick so andersartigen Heimatlandschaften durchaus Gemeinsamkeiten haben: Sowohl die Steppe zwischen Sibirien und der Mongolei (Tuwa) als auch die Sahara (Mali) erstrecken sich endlos weit. Die unermesslichen Räume verlangen den darin lebenden Menschen eine demütige Haltung gegenüber der Größe der Schöpfung ab. All diese gemeinsamen Erfahrungen prägen das spirituell gefärbte Album “Like A Bird Or Spirit, Not A Face”. Tuwinischer Obertongesang und nordafrikanischer Desert Blues gehen hier eine einzigartige Verbindung ein. Sainkhos Vokalavantgarde und der Afrorock der “Wüstensöhne” ergänzen sich zu einem so definitiv noch nicht gehörten Sound. Die auf Englisch, Russisch, Tuwinisch und als wortfreie Lautmalereien vorgetragenen Songs lassen sich nicht ohne Weiteres stilistisch einordnen. Die Schublade dafür muss wohl erst noch gezimmert werden. Ein wahrlich ungewöhnliches Hörerlebnis.

Sainkhos persönliche Reise begann 1957 im Ort Kyzyl in Tuwa, nahe der mongolischen Grenze. Durch die nomadisierenden Großeltern und ihre Eltern, ein Lehrerehepaar, kam sie schon sehr früh mit der Musikkultur der Turkvölker in Kontakt. Vor allem der Großmutter ist es zu verdanken, dass sich Sainkho bereits im Kindesalter für Khöömei, den Kehlkopf- bzw. Obertongesang der Region, begeisterte. Damals lernte sie begierig alles, was sie über die Musik, Bräuche und schamanischen Lehren ihrer Heimat in Erfahrung bringen konnte. Als junge Frau vertiefte sie ihr Wissen in einem Musikstudium in Moskau, das sie mit einer Arbeit über die Gesangsstile in der rituellen Musik Sibiriens abschloss. Anfang der 1990er Jahre schlug Sainkho den Weg in eine professionelle Sololaufbahn ein, seither bemüht sie sich um eine Verbindung traditioneller Folklore mit heutigen Musikformen. In den letzten 25 Jahren hat die “Wanderin zwischen den Welten” über vierzig Alben veröffentlicht. Eines davon, “Naked Spirit” (1998), wurde mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik prämiert.

Auf “Like A Bird Or Spirit, Not A Face” belegt Sainkho nun einmal mehr, dass man sie völlig zu Recht zu den aufregendsten Vokalkünstlerinnen unserer Zeit rechnet. Die Frau mit den tausend Stimmen geht hier erneut voll und ganz im Erfinden neuer Ausdrucksformen auf. Ihrem 7-Oktaven-Organ entlockt sie Folkloristisches aus der Steppe, opernhafte Soprantöne, zärtliche Balladenstimmungen, jazzig Improvisiertes, Kinderkreischen, Tierhaftes, Gutturales und Unklassifizierbares. Was für eine Stimme!