Oregon – Family Tree

Home » Allgemein » Oregon – Family Tree

Oregon – Family Tree

Posted on

FAMILYTREE_Cover (Cam Jazz, VÖ: 16.11.2012)
Schon Mitte der 80er Jahre schrieb das amerikanische Jazzmagazin Down Beat, Oregon sei “eine der dauerhaftesten und konstant interessanten akustischen Fusion-Gruppen”. Damals war das US-Quartett 15 Jahre alt, inzwischen befindet es sich im 42. Jahr, und das erwähnte Zitat ist gültiger denn je. Noch erstaunlicher als die Beständigkeit über einen solch langen Zeitraum mutet einen freilich die ungeminderte Kreativität an, mit der Oregon noch immer auf die Bühne und ins Studio gehen. Selbst nach vier Dekaden kennt das Ensemble keinen Stillstand, es ist zur künstlerischen Weiterentwicklung bereit wie eh und je.

“Family Tree” liefert den klingenden Beweis. Die jüngste CD in der umfangreichen Oregon-Diskographie besticht mit einer überbordenden Fülle an Klangfarben und Stilnuancen. Paul McCandless, Ralph Towner, Glen Moore und Mark Walker, allesamt ausgewiesene Multi-Instrumentalisten, wechseln von Stück zu Stück das Instrument, an Oboe, Bassklarinette, Sopransax, Konzertgitarre, E-Gitarre, elektronischen Keyboards, Klavier, Kontrabass, Tabla und anderen ethnischen Perkussionsinstrumenten, einem regulären Drumkit und vielen Tonerzeugern mehr erschaffen die vier einen ungemein variantenreichen Sound. Hinzu kommt eine stilistische Vielseitigkeit, die ihresgleichen sucht. Da gibt es im spritzigen Album-Opener “Bibo Babo” einen raffiniert vertonten Modernjazz zu hören, “Tern” ist eher dem Neo-Bop zuzurechnen, “The Hexagram” verzaubert mit einem wunderbar lyrischen Kammerjazz, ins klassizistische “Family Tree” sind Elemente der europäischen Kunstmusik eingeflossen, “Jurassic” kommt als rhapsodische Klangmalerei daher, in “Max Alert” wird ganz zeitgemäß mit Elektronik-Effekten von heute experimentiert, und das Schlussstück “Carnival Express” schließlich verbreitet gute Laune im sonnigen Latin-Rhythmus. Was für ein mannigfaltiges, wechselvolles Instrumentalwerk!
Angesichts der Bandbreite unterschiedlichster Klangfacetten will man gar nicht glauben, dass nur vier Musiker dafür verantwortlich zeichnen. “Wir haben uns immer als kleines Orchester gesehen”, so hat Ralph Towner einmal im Interview die Klangvielfalt von Oregon kommentiert. Um diese möglichst in ihrer ganzen Farbenpracht festzuhalten, ließ die Band “Family Tree” in den Bauer Studios produzieren. Der Studiokomplex in Ludwigsburg genügt bekanntermaßen höchsten Ansprüchen an einen originalgetreuen, transparenten Sound.
Die unvergleichliche Karriere von Oregon zählt wohl zu den aufregendsten Kapiteln in der Geschichte des modernen Jazz. Mit wegweisenden Klangschöpfungen, die den Jazz mit westlicher und indischer Klassik, Folk und Weltmusik aus aller Herren Länder verknüpfen, hat die Gruppe einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des Genres geleistet. Und das begann schon 1970, als Oregon aus der Formation Winter Consort hervorgingen. Sehr schnell bemerkten die Fachwelt und das Publikum, dass da etwas Großes entstand. Noch im Gründungsjahr gingen Oregon für erste Aufnahmen ins Studio, bevor diese veröffentlicht werden konnten, war ihr Label Increase Records jedoch von der Bildfläche verschwunden (erst 1980 hat man das eigentliche Debüt unter dem Titel “Our First Record” nachgereicht). 1972 erlebten die aufstrebenden Newcomer dann nach zahlreichen gefeierten Auftritten mit “Music Of Another Present Era” ihren Durchbruch, die darauf folgenden Einspielungen “Trios Solos”, “Distant Hills” und “Winter Light” etablierten sie endgültig in der Jazzwelt. Nach einer mehrjährigen Unterbrechung aus privaten Gründen (unter anderem wäre hier die Geburt von Walcotts Tochter zu erwähnen) kehrten die Amerikaner 1983 mit dem epochalen “Oregon” in die Öffentlichkeit zurück. Kurz bevor im Jahr darauf “Crossings” erschien, verunglückte Colin Walcott tödlich bei einem Verkehrsunfall in der DDR. Nach diesem Schockerlebnis löste sich die Band vorübergehend auf, erst 1985 kam es anlässlich eines Gedenkkonzerts für Walcott in New York City zur Reunion. In den Folgejahren nahmen wechselnde Schlagzeuger (Trilok Gurtu, Arto Tunçboyacıyan u.a.) den leer gewordenen Platz ein, Mitte der 90er Jahre ist Mark Walker in dieser Position als Festmitglied nachgerückt. 1999 reisten Oregon nach Russland, um mit dem Tschaikowski Symphonieorchester von Radio Moskau ambitionierte Orchesterstücke aufzunehmen. Das Klangresultat, “Oregon In Moscow”, wurde gleich in vier Kategorien für den Grammy nominiert.
2005 unterschrieben Oregon einen Vertrag beim renommierten italienischen Label CAM Jazz, seither erleben Ralph Towner (heute 72), Paul McCandless (65) und Glen Moore (70) unterstützt vom noch etwas jüngeren Kollegen Mark Walker (51) ihren zweiten Frühling. Oder ist es schon der dritte? Der vierte gar? Musik hält jung, möchte man in dem Fall mit einem etwas abgegriffenen Bonmot sagen. Aber es stimmt nun mal, nicht zuletzt ihrer ungebrochenen Spielfreude verdanken es die in die Jahre gekommenen Jazzveteranen, dass sie unverbraucht und neugierig wie in den frühen Karrieretagen wirken. Die intakten Beziehungen mit ihren Angehörigen und den Fans haben wohl ebenfalls dazu beigetragen, dass Oregon und ihr feingeistiger Jazz im Jahr 2012 verblüffend jugendlich und frisch tönen. Das jüngste Album drückt die tief empfundene Dankbarkeit für all das aus und festigt zudem die Bande zwischen der Gruppe und ihren Fans. Oregon selbst dazu in einem Statement: “‘Family Tree’ widmen wir nicht nur unseren eigenen Familien sondern auch der erweiterten Familie unserer Hörer, Produzenten, Tontechniker und all jenen, die uns mit ihrem Zuspruch unterstützt und dadurch an unserem Erfolg mitgewirkt haben. Das Engagement bei der Weiterentwicklung unserer Musik rührt nicht zuletzt von dem Vertrauen her, das man in uns setzt.”