Joe Lovano / Us Five – Birdsongs

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Joe Lovano / Us Five – Birdsongs

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JoeLovano_BirdSongs_Covershot (EMI Blue Note, VÖ: 04.02.2011)
„Ich sehe das gar nicht so sehr als Tribute-Album“, bemerkt Joe Lovano und greift damit jeder unbedachten Kritik vor, dass sein neues Album „Bird Songs“, eine Entdeckungsreise in die Welt des Charlie Parker, in irgendeiner Weise rückwärtsgerichtet sein könnte. Sein mittlerweile 22. Album für Blue Note, das zugleich sein 20-jähriges Jubiläum auf dem Jazzlabel markiert, bricht bewusst mit der Tradition gängiger Tribute-Alben. „Bird Songs“ ist ein spannender, abenteuerlicher, moderner und sehr persönlicher Blick auf einen Giganten der Jazzgeschichte von einem der wichtigsten Jazzer unserer Zeit.

Us Five erwies sich dabei als perfektes Umfeld für diese Entdeckungsreise. Lovanos dynamische junge Band, zu der neben den beiden Schlagzeugern Otis Brown III und Francisco Mela noch die Bassistin Esperanza Spalding und der Pianist James Weidman gehören, schlägt schon seit einigen Jahren Jazzfans aus aller Welt in den Bann. Ihr erstes gemeinsames Album, „Folk Art“ aus dem Jahr 2009, das mit einem superben Set Lovanos Kompositionskünste demonstrierte, brachte der Band postwendend den JJA Jazz Award 2010 als bestes kleines Ensemble des Jahres ein, sowie den Gewinn als beste Jazzgruppe des Jahres beim DownBeat Critics Poll 2010. Lovano durfte sich zudem über ein doppeltes Tripel freuen, als er sowohl bei den JJA Awards als auch von DownBeat zum besten Jazzmusiker und zum besten Tenorsaxophonisten gewählt wurde.

„Wir versuchen, aus jedem möglichen Blickwinkel heraus zu spielen“, beschreibt Lovano die Arbeitsweise von Us Five. „Wir lassen einander viel Raum, was dem Gefühl der Musik dienen soll, und gehen immer spontan auf frisch entstandene Ideen ein. Jeder ist zugleich Leader und Anhänger. So entsteht bei unserem Zusammenspiel ein ganz eigener Zauber.“

Ein wichtiger Faktor bei der Herangehensweise an das Projekt „Bird Songs“ war, dass Lovano Charlie Parker alles Museale nahm und ihn förmlich in ein lebendes und pulsierendes Raum-Zeit-Kontinuum setzte, bei dem die Musiker, die auf Birds Entwicklung einen entscheidenden Einfluss hatten (Coleman Hawkins, Lester Young, Ben Webster), genauso in Betracht gezogen wurden wie jene Musiker, die wiederum von Birds Musik nachhaltig beeinflusst worden sind (John Coltrane, Ornette Coleman, Wayne Shorter). Am wichtigsten war es Lovano jedoch, Parkers Musik möglichst persönlich zu interpretieren.

„Ich habe erst gar nicht versucht so wie Charlie Parker zu spielen“, erklärt Lovano. „Ich habe beim Spielen jedoch sowohl seine Einflüsse und Ursprünge berücksichtigt als auch den Einfluss all dieser wahnsinnigen Musiker, die sich als seine Schüler sahen. Ich habe mich auf die unglaublichen Kompositionen konzentriert, auf die Themen, die harmonischen Strukturen und auf die Form der Stücke, die ich versucht habe, zu öffnen und auf den Kopf zu stellen, um meine eigenen melodischen und rhythmischen Variationen zu kreieren. Ich wollte einfach ganz eigene Aufnahmen entstehen lassen und nicht bloß die Geschichte eines Anderen nacherzählen.“

Wie bei vielen jungen Jazzmusikern war Birds Musik auch für Joe Lovano eine Initiation. Er spielte wie Parker zunächst Altsaxophon, bevor er als Teenager auf das Tenorsaxophon wechselte. „Mein Dad hat Charlie Parker in den späten 40ern und frühen 50ern noch live erlebt, wenn er nach Cleveland kam“, erinnert sich Lovano, dessen Vater Tony „Big T“ Lovano selbst ein bekannter Saxophonist war. „Er besaß viele Aufnahmen und hatte die Male, die er Bird hat spielen sehen, in bester Erinnerung, wovon er denn auch gerne erzählte. Ich war etwa zwei Jahre alt, als Charlie Parker starb, aber die Begeisterung meines Dads für sein Spiel und sein Einfluss haben sich auch auf mich übertragen. All die Jahre Charlie Parkers Musik zu spielen und seine Melodien und Kniffe zu studieren, war von Anfang an für mein eigenes Saxophonspiel sehr lehrreich.“

Lovano entschied sich jedoch dafür, die „Bird Songs“ nicht auf Parkers angestammten Instrument aufzunehmen, sondern spielte acht der insgesamt elf Tracks, die alle von Parker geschrieben wurden respektive mit ihm verbunden werden, auf seinem Tenorsaxophon. Die Ausnahmen bilden das auf dem Altsaxophon gespielte „Blues Collage“, das mit seinem einzigartigen Aulochrome, einer Art Doppel-Sopran, aufgenommene „Birdyard“ sowie das von Lovano hier erstmals eingesetzte G-Mezzosopran auf „Lover Man“. „Für mich ist das Tenorsaxophon meine Stimme“, erklärt er. „Ich experimentiere viel mit unterschiedlichen Blasinstrumenten, um neue Ideen auszuprobieren, aber ich wollte mich diesmal aufs Tenor konzentrieren, weil ich mich damit einfach identifiziere.“

Die Idee zu „Bird Songs“ hatte in den letzten Jahren Form angenommen, nachdem Us Five auf Barbados ein Konzert gegeben und dafür ein spezielles Arrangement von Parkers Bluesnummer „Barbados“ einstudiert hatten. „Das war quasi der Ausgangspunkt für die Idee, sich auf Birds Kompositionen zu konzentrieren. ‘Barbados‘ hat ein ansteckendes Thema und wir haben versucht, das karibische Gefühl einzufangen und bis zum Ende durchzuhalten.“

Was bei „Bird Songs“ wirklich erstaunt, ist, dass Lovano an jedem Stück weit über die gängigen Interpretationen hinaus geht und so einem der abgegriffensten Kataloge des Jazz förmlich neues Leben einhaucht. „Donna Lee“, das normalerweise als strahlendes Uptempo-Stück gespielt wird, ist ein schönes Fallbeispiel: „Das ist eines der Stücke, bei denen schon der Titel eine Spielweise nahelegt, an die auch ich mich ein ganzes Leben lang gehalten hatte. Diesmal habe ich es aber auf den Kopf gestellt, habe mir die Harmonien vorgenommen und das Tempo rausgenommen. Ich verfolgte dabei eher den Ansatz von Coleman Hawkins, die Art und Weise, wie er ‘Body And Soul‘ gespielt hat. Für mich ist Coleman Hawkins, The Hawk, ein Vorläufer von Bird und hat diesen stark beeinflusst.“

„Moose The Mooche“ ist ein weiterer Parker-Klassiker, bei dem Lovano das Tempo deutlich verlangsamt hat, wobei er die Melodie zerlegte und die einzelnen Teile neu zusammenfügte. „Ich nahm kleine Teile des zentralen Themas und stellte sie in den Hintergrund. Die Rhythmus-Sektion konzentrierte sich gleichzeitig auf ein rhythmisches Motiv. Ich zügelte das Tempo und spielte mit einem vom John Coltrane Quartett beeinflussten Funk-Groove, der mir mehr Interpretation erlaubte. Wenn man das Stück schneller spielt, muss man es auf eine bestimmte Weise spielen, während mir die Verlangsamung viel mehr Freiheit erlaubte, die Melodie auf meine eigene Art und mit eigenen Gefühlen zu spielen.“

„Ko Ko“ avancierte zum Stream-of-consciousness-Paradestück des Trios Lovano, Brown und Mela, wobei die beiden Drummer kontinuierlich das Tempo zu wechseln scheinen und Lovano so frei improvisiert, dass die Melodie in einzelne Bruchstücke aufsplittert. „Wir improvisieren hier so sehr, dass dieses Stück genau so unglaublich modern klingt, wie es das eigentlich auch ist.“

„Blues Collage“ ist ein aus drei Bluesstücken Parkers zusammengefügtes Trio-Arrangement mit Lovano am Altsaxophon. „Charlie Parker hat eine erstaunliche Anzahl an Bluesstücken geschrieben und jedes ist ein Klassiker. Da brauchte ich nur drei auszusuchen. Ich spiele ‘Carvin The Bird‘, Esperanza Spalding legt das Gewicht auf ‘Bird Feathers‘ und James Weidman auf ‘Bloomdido‘. Wir teilen uns das Stück untereinander als eine kleine Fuge. Auf ‘Dewey Square‘ habe ich das Schlagzeug in den Vordergrund gestellt und wir spielen hier mit einem eher brasilianischen Rhythmusgefühl. Innerhalb der Band gibt es so viele unterschiedliche Einflüsse aus der Welt der Musik, dass ich dies auch auf diesem Album zum Ausdruck bringen wollte. Diese Stücke von Bird waren dafür aber auch bestens geeignet.“

Die „Yardbird Suite“ findet sich auf dem Album in zwei unterschiedlichen Versionen. Zunächst als „Birdyard“, ein Stück, für das Lovano sein Aulochrome zum Einsatz bringt. „Ich habe eine Phrase aus der ‘Yardbird Suite‘ genommen und sie wie eine Art wirbelnder Derwisch durch fünf Akkorde gejagt und darüber mit meinem Aulochrome improvisiert. Allein die Vorstellung, dass Charlie Parker so ein Instrument gehabt und mit dessen Möglichkeiten seine Ideen hätte verwirklichen können, ist geradezu unglaublich.“

Die Version von „Yardbird Suite“, die das Album beendet, ist die perfekte Zusammenfassung des abenteuerlichen Spirits, der auf Lovanos Projekt vorherrscht. „Diese Umsetzung ist mir eines Tages eingefallen, als ich diese Melodie wie eine Hymne empfand, wie ein Spiritual. Ich begann das Stück zunächst ohne Begleitung auf dem Saxophon zu spielen. Nach und nach hörte ich alle anderen Teile, fügte ein Zwischenspiel hinzu und ging dann zu einem tanzartigen 6/8 über, was eine ganz neue Facette des Stücks eröffnete.“

Joe Lovano hat mit „Bird Songs“ mehr als ein würdiges Album zum 20-jährigen Jubiläum auf Blue Note kreiert, eine Zeitspanne, die Lovano als Mensch und Musiker definiert hat. „Mit Bruce Lundvall in all den Jahren zu arbeiten, war eine wahnsinnig schöne Erfahrung. Ich hatte nicht nur die Möglichkeit, meine Entwicklung als Komponist und Improvisator zu dokumentieren, sondern konnte auch in den vielen Jahren meine Beziehungen zu herausragenden Musikern pflegen. Alles steht und fällt mit den Menschen, mit denen du lebst und mit denen du Musik entdeckst, und die dich zu dem Musiker machen, der du bist. Ich habe das Glück gehabt, all das verwirklichen zu können und einiges an Musik zu kreieren, auf das ich wirklich stolz bin.“

„Beim Zusammenstellen dieser Platte habe ich mich häufig gefragt, wie Bird wohl seine Stücke weiterentwickelt hätte, nicht nur als der unglaubliche Solist, der er war, sondern auch als Arrangeur und Bandleader. Von dem, was wir über ihn wissen, ist es sicher, dass er weit über Jazz und BeBop hinaus an den Möglichkeiten der Musik interessiert war, und ich bin mir sicher, dass er uns mit jedem neuen Schritt genauso überrascht hätte wie Miles, Coltrane, Sonny und Ornette, vier seiner profiliertesten und besten Nachfolger. Als Charlie Parker im Alter von 34 Jahren starb, hat er viele Fragen offen gelassen, was aus ihm geworden wäre. Diese Aufnahmen sind mein bescheidener Versuch, einige dieser Fragen auf meine eigene Art zu beantworten.“