Dieter Ilg – BASS

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Dieter Ilg – BASS

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(FullFat, VÖ: 24.10.08)
Deutschlands führender Jazzbassist hat es endlich gewagt. Nach seinen viel gerühmten Trioproduktionen, der lustvollen Bearbeitung von Volksliedern aus dem In- und Ausland und dem intimen Zusammenspiel mit Saxophonlegende Charlie Mariano ist es nun so weit: Dieter Ilg legt auf seinem Label (FullFat) sein erstes Soloalbum vor. Und “solo” ist in dem Zusammenhang wortwörtlich zu nehmen. Ganz allein, d.h. nur mit seinem treuen dicksaitigen Tieftonbegleiter bestreitet der Jazzman die jüngste Veröffentlichung “Bass”.

Wie macht er das nur? So mancher Hörer wird staunend vor den heimischen Lautsprechern sitzen und kopfschüttelnd rätseln, welche Hilfsmittel Dieter Ilg herangezogen hat, um all diese unterschiedlichen Klänge zu erzeugen. Doch seien Sie versichert: Es kommen überhaupt keine Hilfsmittel zum Einsatz. Kein Netz und kein doppelter Boden, keine Effektgeräte und keine verfremdenden Soundprozessoren an der Mixerkonsole – hier ist alles echt und handgemacht. Was man hört, stammt ausschließlich von einem ganz normalen Kontrabass. Allerdings beschränkt der Mann aus Freiburg im Breisgau sein Spiel nicht auf die vier Saiten, auch der Holzkorpus und die Zargen, der Wirbelkasten, das bundlose Griffbrett, der Steg und der Saitenhalter dienen ihm als Klangquelle.

Was Ilg mit dem double bass anstellt, ist schlicht phänomenal! Gleich im Eröffnungsstück “Arirang”, das auf einer koreanischen Melodie basiert, fasziniert der Virtuose mit raffinierten Spieltechniken. Er greift Bassstimme und Melodielinie gleichzeitig, begleitet sich sozusagen selbst, bevor er dann in einem furiosen Groove-Teil richtig loslegt. Im Folgetitel “Savannah Samurai”, T.C. Boyles berühmtem Roman “East Is East” gewidmet, setzt er die gedämpften Saiten seines Instruments perkussiv als Rhythmusgeber ein. Und beim American-Songbook-Schlager “I Fall In Love Too Easily” verblüfft er anschließend mit vertrackten Flageolett-Fingerfertigkeiten und in der Oktave geführten Motivketten.

Nicht weniger virtuos und originell ist der “E-Blues” gestaltet. In dieser Eigenkomposition transformiert Dieter Ilg das uralte Zwölftaktschema des Blues in ein modernes Kontrabass-Kabinettstück, lässt seinem Spieltrieb freien Lauf und groovt, dass sich die Balken biegen. Sehr erfinderisch zeigt er sich auch in “Ilgoretto”. Angelehnt an eine Arie aus Giuseppe Verdis “Rigoletto” fasziniert er hier mit einem wuchtigen Bordun-Brummbass, dessen tiefe Dauertöne die Melodie stützend tragen. Diese Instrumentalnummer ist im Ãœbrigen ein Musterbeispiel für Ilgs sanften, respektvollen Umgang mit der Tradition.

Den führt er auch in zwei Volksweisen aus dem deutschsprachigen Raum anschaulich vor. Das um 1780 entstandene Kinderlied “Guter Mond, du gehst so stille” verwandelt Ilg in eine rhythmisch pulsierende tour de force für Solo-Stehbass. Und das Handwerksburschenlied “Es, es, es und es” aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird bei ihm zur traurig-schönen Ballade (die nebenbei bemerkt listig den Rockklassiker “Smoke On The Water” zitiert). Ilg lässt sich und dem Hörenden dabei viel Zeit, den einzelnen Stimmen zu folgen. Als lauschte man einem Gespräch mehrerer Personen.

In diesen Bearbeitungen überlieferter Volksweisen führt Dieter Ilg seine Auseinandersetzung mit dem lange Zeit verpönten Liedgut deutscher Zunge fort. Damit hat er sich ja seit den späten 90er Jahren immer wieder beschäftigt. Auf den Alben “Folk Songs”, “Fieldwork” und „LiveIlg“ etwa schürfte er als einer der ersten Jazzer in unseren Breitengraden tief nach den Wurzeln der eigenen kulturellen Identität und rehabilitierte in Verruf geratene Lieder wie “Im Märzen der Bauer” und “Der Mond ist aufgegangen”.

Neben der deutschen Folkloretradition hat es ihm ganz offensichtlich auch die japanische angetan. Auf seinem Solodebüt “Bass” jedenfalls flirtet Ilg in den aneinandergereihten Titeln “Hanami” und “Tsuyu” (aus der Feder seines langjährigen Duopartners Charlie Mariano) kräftig mit der Klangwelt Nippons. Er entlockt seinem Stehbass fernöstlich anmutende Klangfolgen, die mitunter gar an die Koto-Zither erinnern. Was freilich sehr gut passt, steht der Begriff “Hanami” doch für die Tradition des Kirschblütenfests und “Tsuyu” für die alljährliche Regenzeit im Land der aufgehenden Sonne.

Ein ganz besonderes Bravourstück ist Dieter Ilg mit “Animal Farm” gelungen, George Orwells gleichnamigen Roman erzählt er da gleichsam mit musikalischen Mitteln. Der Storyteller nutzt sämtliche Bauteile des Kontrabasses und ahmt lautmalerisch einen ganzen Zoo nach. Es jault, grunzt und trappelt, dass es eine wahre Freude ist. Tierisch gut! Noch einen Schritt weiter geht Dieter Ilg in “Cousin Mary”. In dieser Neufassung eines John-Coltrane-Werks gibt er sich nicht mit verzwickten Spieltechniken und ungewohnten Bassklängen zufrieden, er tritt auch selbst in Aktion. Mit Mund und Füßen bringt er Sounds hervor, die sich mit seinem Instrument zur untrennbaren Einheit verbinden. Förmlich so, als wären die beiden, Bass und Mensch, fest miteinander verwachsen. Der menschliche Körper als natürliche Verlängerung des Basses (vice versa).

Voller Experimentierfreude und Entdeckergeist treibt Ilg auf “Bass” die Auseinandersetzung mit dem altehrwürdigen und zugleich hochaktuellen Kontrabass voran, dabei fallen ihm am laufenden Band neue, so noch nicht gehörte Kniffe ein. Hier werden die Saiten nicht nur in Jazzmanier gezupft, es wird auch nach Herzenslust gerieben, gezerrt, geklopft und gehämmert. Doch egal welche Ausdrucksmöglichkeiten der Visionär auch wählt, stets bleibt er musikdienlich. Selbst noch so raffinierte Spieltechniken verkommen bei ihm nie zum Selbstzweck oder zur Effekthascherei, bei aller Virtuosität verliert Ilg nie das Eingängig-Sinnliche aus dem Auge bzw. Ohr.

Nicht zuletzt diese Fähigkeit, sein enormes handwerkliches Können in den Dienst der Musik zu stellen, hat dem Ausnahmebassisten in den vergangenen dreißig Jahren so manches Engagement internationaler Größen eingebracht. Unter anderem stand er mit Mike Stern, Randy Brecker, Peter Erskine, Dave Liebman, Thomas Quasthoff, Nguyên Lê, Till Brönner, Albert Mangelsdorff und John Abercrombie auf der Bühne und/oder im Studio. Und das ist nur eine kleine Auswahl all der Hochkaräter, mit denen er gemeinsame Sache machte.

Auf “Bass” ist Dieter Ilg nun erstmals ganz und gar in eigener Sache tätig. Er tritt aus dem Schatten des Sideman ins Rampenlicht, erhebt das Begleitinstrument Kontrabass in den Rang eines Soloinstruments und ersetzt quasi im Alleingang eine ganze Band. Darüber hinaus gelingt es ihm, seinen Tonerzeuger geradezu physikalisch erfassbar zu machen, er steht zum Greifen vor uns. “Bass” – das ist Bassmusik pur und ohne Geschmacksverstärker, das ist eine Vielzahl bunt schillernder Sound-Schattierungen von lediglich einem Instrument. Minimale Besetzung, maximale Klangausbeute!