Chano Domínguez – Flamenco Sketches

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Chano Domínguez – Flamenco Sketches

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Chano Dominguez - Chano Packshot (EMI Blue Note, VÖ: 16.03.2012)
http://www.emi.de/chano_dominguez
Im langen Schatten von Miles Davis selig schrumpfen selbst Riesen zu Zwergen, bis zum heutigen Tage thront der Trompeten-Titan unerreicht über so ziemlich allen Nachfolgern im Jazzbereich, egal welches Instrument sie nun spielen. Wenn Musiker unserer Tage allen Mut zusammennehmen und sich an seinem Erbe versuchen, stellt dies allein schon aufgrund der Ausnahmestellung des legendären Nordamerikaners eine große Herausforderung dar, ein Wagnis, an dem man durchaus auch scheitern kann. Bei Chano Domínguez allerdings zahlt sich das eingegangene Risiko voll aus, der Spanier wird Miles’ Vermächtnis in jeder Note gerecht, auf seinem jüngsten Album “Flamenco Sketches” meistert er einige von dessen unvergesslichen Stücken mit atemberaubender Bravour. Domínguez wagt und gewinnt!

In einem bemerkenswerten Kreativcoup gelingt dem in Barcelona lebenden Pianisten eine fantastische Neuinterpretation von Miles Davis’ Jahrhundertwerk “Kind Of Blue”. Es gibt zwar keine offizielle Absatzstatistik darüber, allem Anschein nach ist “Kind Of Blue” jedoch das meistverkaufte Jazzalbum aller Zeiten. Nicht nur das, viele Kenner halten die inzwischen mit Vierfach-Platin ausgezeichnete Jazzaufnahme von 1959 auch für die einflussreichste. Wer möchte da widersprechen? Auf seinem jüngsten Blue-Note-Album, 2009 live mitgeschnitten, übersetzt Chano Domínguez den Meilenstein in seine ureigene Sound-Sprache. Gemeinsam mit Musikern seiner spanischen Heimat interpretiert er in der Konzertaufzeichnung aus New Yorks Club “Jazz Standard” (an der 116 East 27th Street gelegen) sämtliche Stücke von “Kind Of Blue” in einer reizvollen Verbindung von Flamenco und Jazz. Zusätzlich reichert er Miles Davis’ populären Titel “Nardis” (ursprünglich von Bill Evans in die Jazzwelt eingeführt) und dessen Klassiker “Serpent’s Tooth” (aus der Phase vor “Kind Of Blue”) sehr originell mit Klangelementen von der iberischen Halbinsel an. Höhepunkt des Konzertdokuments ist aber fraglos das titelgebende “Flamenco Sketches”. Die Komposition, in der Miles Davis Ende der 1950er Jahre erstmals mit der Volksmusik Spaniens liebäugelte, bevor sich sein Flirt dann auf dem Longplayer “Sketches Of Spain” zur leidenschaftlichen Liebesbeziehung auswuchs, ertönt hier in einer überwältigenden 16-Minuten-Fassung.
Chano Domínguez’ eigenwillige Neudeutung von “Kind Of Blue” wurde ursprünglich vom Barcelona Jazz Festival in Auftrag gegeben, 2009 erlebte sie dort ihre umjubelte Premiere. “Wir feierten fünfzig Jahre ‘Kind Of Blue'”, erinnert sich Festivalleiterin Joan Cararach. “Eine Konzertbuchung war da natürlich naheliegend, nämlich die von Drummer Jimmy Cobb, dem einzigen noch lebenden Mitwirkenden [der Originalbesetzung von 1959]. Das reichte mir aber nicht, weshalb ich die beiden originellsten Musiker aus Barcelona, Chano Domínguez und Omar Sosa, bat, neue Musik um ‘Kind Of Blue’ herum zu schreiben. Sie hatten sämtliche Freiheiten und sollten nicht einfach nur ‘Kind Of Blue’ nachspielen, sondern das Album von ihrem persönlichen Standpunkt und von ihrer Klangsprache her betrachten.”
Sebastían Domínguez Lozano, so der vollständige Name des 1960 geborenen Künstlers, gelingt genau das. Er zollt Miles Davis den gebührenden Respekt und nimmt sich zugleich die Freiheit für ein paar individuelle Abweichungen vom Original heraus. “Die Musik von Miles Davis war eine Konstante in meinen Lehrjahren als Musiker”, erläutert der Pianist. “Es war mir sehr wichtig, den Geist der musikalischen Freiheit, der das komplette Werk von Miles durchdringt, zu bewahren. Deswegen habe ich auch einige Elemente in der Musik verändert, um sie der Sprache meiner eigenen Kultur anzunähern.”
“Flamenco Sketches” betrachtet das Repertoire von Miles Davis unüberhörbar aus einem spanischen Blickwinkel, was sich allein schon am Line-up ablesen lässt. Mit Bassist Mario Rossy und dem auf einer Cajón-Kistentrommel sitzenden Perkussionisten Israel “Paraná” Suárez hat sich Chano Domínguez zwei Landsleute auf die Bühne geholt, die wie er sowohl im Jazz als auch im Flamenco zu Hause sind. Sänger Blas “Kejío” Córdoba ist ebenfalls fest in der volksmusikalischen Tradition der Heimat verwurzelt, man höre sich nur einmal an, wie er mit kratziger Stimme zu Miles Davis’ “Blue In Green” den Text des Gedichts “Canción 51” von Rafael Alberta Gaditano singt.
Zu den vorgenannten Musikern gesellt sich mit Tomás “Tomasito” Moreno ein Flamenco-Tänzer. Ein Tänzer als Festmitglied in der Formation? Für spanische Ensembles ist es ganz normal, Tanzschritte diverser Flamenco-Stile in die Musik miteinzubeziehen, wie Domínguez ausführt: “Bei uns Zuhause benutzen wir den Tanz als Teil der Perkussion, indem wir ihn in Einleitungen und Improvisationen als Teil der Songstruktur integrieren.” Neben dem lauten Aufstampfen zur Rhythmisierung steuert Tänzer Tomás “Tomasito” Moreno mit Sänger Blas “Kejío” Córdoba auch noch das für Flamenco typische akzentuierende Händeklatschen bei. Als so genannte “Palmistas” (von spanisch la palma = die Handfläche) interpunktieren und betonen die beiden mit ihren Handclaps die polyrhythmischen Metren.
Chano Domínguez weiß zu berichten, dass er schon als Kind an die Musikfolklore seiner Heimatprovinz herangeführt wurde: “Ich bin in Cádiz geboren, wo der Flamenco, wie wir ihn heute kennen, entstanden ist. Durch meine Eltern, die große Flamenco-Fans waren, war ich immer davon umgeben.” Erste Erfahrungen als Live-Performer sammelte Chano Domínguez als junger Mann dann ab 1978 allerdings mit rock andaluz in der Band Cai. Nach deren Split wechselte er 1981 zum Klavierjazz, bevor dann Anfang der 1990er Jahre auch der Flamenco wieder in sein Leben zurückkehrte. Der Pianist wurde mit seinem Trio zu einem Pionier des Flamenco Jazz, nahm am laufenden Band gefeierte Alben auf (“Chano”, “New Flamenco Sound”, “Acércate Más” usw.) und arbeitete mit prominenten Kollegen wie Paquito D’Rivera, Michel Camilo, Gonzalo Rubalcaba, Wynton Marsalis, George Mraz und Jack DeJohnette zusammen. Mehrere erfolgreiche Kooperationen mit der WDR Big Band Köln weist seine Biographie ebenfalls auf.
Mit der jüngsten Veröffentlichung “Flamenco Sketches” zeigt Chano Domínguez nun einmal mehr, dass Flamenco und Jazz einander wunderbar ergänzen, so unterschiedlich die beiden Musikstile formal auch sein mögen. Im Interview mit dem Magazin “Downbeat” (Ausgabe September 2009) führte er dazu aus: “Oberflächlich betrachtet sind Flamenco und Jazz sehr unterschiedlich, im Kern sind sie einander jedoch recht ähnlich. Beide entstammen Kulturen von Menschen, die es schwer haben im Leben. Jazz fängt bei den Schwarzen an, beim Blues und der Absicht, sein Glück und seine Traurigkeit auszudrücken – und im Flamenco ist es genauso.”