CASSANDRA WILSON – Silver Pony

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CASSANDRA WILSON – Silver Pony

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CassandraWilson_SilverPony (EMI Blue Note, VÖ: 05.11.2010)
Wie kann eine Sängerin auf dem vermeintlichen Höhepunkt ihrer Karriere ein von der Kritik gefeiertes Album mit Jazzstandards (Loverly aus dem Jahr 2008) toppen – einer Grammy-Auszeichnung in der Kategorie Best Jazz Vocal Album, welche mit einem hervorragend aufeinander eingespielten Ensemble von Ausnahmemusikern aufgenommen wurde? Wenn man wie Cassandra Wilson bereits auf zwei derartige Auszeichnungen sowie acht zuvor bei Blue Note erschienene Alben, von denen jedes als unverkennbarer Meilenstein einer exzeptionell kreativen und einzigartig erfolgreichen Karriere gilt, verweisen kann, lautet die Antwort ganz einfach: Fordere dich selbst immer wieder aufs Neue heraus. Such dir eine neue Band, deren Mitglieder sich zum Teil auch schon in der alten bewährt haben, lade außerdem eine breite Auswahl von Gastmusikern – darunter Common, John Legend und Terence Blanchard – ins Studio ein und verfolge eine frische Strategie, die weniger bis ins kleinste Detail ausgefeilt als in einem Moment physischer und emotionaler Wandlung entstanden ist.

Mit anderen Worten: Steig’ auf ein neues Pferd und reite es. In diesem Fall handelt es sich bei dem Pferd um Silver Pony – Wilsons bis dato ambitioniertestes Aufnahmeprojekt.
Cassandra Wilson hat ihre künstlerische Unerschrockenheit im Laufe ihrer Karriere immer wieder unter Beweis gestellt – eine Eigenschaft, die sie bereits sehr früh an den Tag legte. Das Bild auf dem Cover des neuen Albums ist ein Familienfoto und zeigt die vierjährige Cassandra, wie sie selbstbewusst auf einem Pferd sitzt. „Damals kam ein Mann mit einem Pony und einer Kamera in unser Viertel in Jackson“, erinnert sie sich. „Man konnte sich fotografieren lassen.” Ihre Brüder weigerten sich, aber Cassandra war begeistert. Ihre Mutter zögerte – „damals gab es gewisse Dinge, die eine junge Dame einfach nicht tat”, entsinnt sich Wilson – doch Cassandra nutzte die Gunst der Stunde und ließ sich fotografierten. „Ich bin so froh, dass sie mich auf dem Pferd sitzen ließ“, sagt sie heute. „Ich hatte keine Angst, und vermutlich wollte sie mich darin bestärken.“
Dieselbe Angstlosigkeit inspiriert heute Wilsons Arbeit. „Ich bereite mich auf jede Aufnahme vor, aber wirklich vorbereitet sein kann man nie“, sagt sie. „Denn man weiß nicht, was passiert. Man begibt sich in eine Situation, die es dem Projekt erlaubt, sich zu offenbaren.“
Silver Pony enthält die ersten Livetracks, die Wilson seit 1991 veröffentlicht hat, und zugleich die ersten überhaupt, die sie bei Blue Note herausbringt. Dennoch ist diese Veröffentlichung weitaus komplexer und spannender als ein simples Live-Album. Das Projekt offenbarte sich Wilson nämlich als faszinierender Hybride aus Live- und Studioaufnahmen, der die erstaunlichen Qualitäten einer beeindruckenden Band in Aktion vor einem Live-Publikum mit dem tiefen Zusammenhalt mischt, den dieselben Musiker in einem Studio entwickeln. Und nicht etwa in irgendeinem Studio, sondern im Piety Street Recording-Studio, bei dessen Miteigentümer es sich um Silver Pony-Koproduzent John Fischbach handelt. „Ich nenne ihn den Magier“, verrät Wilson.
„Silver Pony ist ein Bandalbum“, erklärt sie – eine Tatsache, die sich in den beiden rein instrumentalen Tracks „A Night in Seville“ und „Silver Pony“ sowie der kollektiven Vision der Kompositionen und Arrangements, für die allen Musikern Credits zugestanden werden, spiegelt. Und es handelt sich tatsächlich um eine renommierte Gruppe von Musikern bestehend aus Mitgliedern von Wilsons früherer Band – Gitarrist Marvin Sewell, Drummer Herlin Riley und Percussionist Lekan Babalola sowie Bassist Reginald Veal (der ebenfalls bereits mit Wilson und noch viel länger mit Riley gearbeitet hat) und dem inzwischen an der Juilliard School in New York studierenden Pianisten Jonathan Batiste, dem neusten in einer lange Serie von Wunderkindern aus New Orleans. Riley und Veal stammen ebenfalls aus der Crescent City. „Sie haben also bereits eine gemeinsame Vorgeschichte“, sagt Wilson, „und eine gemeinsame Sprache.“ Die Musiker schätzen Wilsons Herangehensweise. „Anders als viele andere Sängerinnen beschränkt Cassandra ihre Musiker nicht auf eine reine Begleitfunktion“, berichtet Riley. „Sie erlaubt uns vollen Ausdruck und Input. Das zeigt, wie sie als Mensch ist.“
Als Cassandra Wilson über Silver Pony nachzudenken begann, hatte sie gerade ein neues Haus im French Quarter gemietet. In New Orleans hatte sie schon einmal vor etwa 30 Jahren kurz gewohnt. Im Mai 2009 starb Wilsons Mutter, die an Alzheimer erkrankt war. Im Oktober desselben Jahres gingen Cassandra und ihre Band auf eine Europatournee durch 13 Städte, von Ludwigshafen nach Guimares in Portugal.
„Für mich hatte die Band den Punkt einer kritischen Masse erreicht“, berichtet Wilson. „Diese spezielle Gruppe, diese Chemie, wollte ich unbedingt einfangen.“ Die Chemie wird in den beiden ersten Tracks „Lover Come Back To Me“ und „St. James Infirmary“, aufgenommen bei einem Konzert in Granada, Spanien, ganz besonders deutlich. Beide Stücke waren bereits auf Loverly zu hören, doch während ersteres auf dem älteren Album ein „Vierzigerjahre-Feeling“ hatte, findet Wilson, dass es sich dieses Mal durch eine „postmoderne Herangehensweise zum Swing“ auszeichnet, angetrieben von Rileys exzellenter Besenarbeit. Letztere vertieft ihren von Loverly vertrauten Uptempo-Groove und wagt sich auf neues musikalisches Terrain vor. „Das ist eine ganz natürliche Entwicklung; sobald man einen Song spielt“, erklärt Wilson, „passiert etwas mit ihm.“
Nachdem sie von dem während der Tour aufgenommenen Material so beeindruckt war, wollte Wilson die Band unbedingt ins Studio holen. „Ich dachte ‚Okay, spielen wir den Jungs ein paar von diesen Sachen vor. Dann können aus dem, was wir gemacht haben, neue Ideen wachsen.’ Das hat wirklich funktioniert.“
Ein typisches Beispiel ist „Silver Moon“, ein Meisterstück featuring Trompeter Terence Blanchard und Rapper Common. Wilson hatte eine 20-minütige Aufnahme aus der in Sevilla eingespielten Einleitung zu „Caravan“ entdeckt. (Ein Teil davon bildet das Instrumental „Silver Pony“.) Sie spielte sie ihrer Band vor und diese improvisierte aufs Neue, inspiriert von der Live-Aufnahme. Sewell erinnert sich: „Das war wie bei einer Art Stream-of-Consciousness-Autor, der zurückgeht und sich denkt: ‚Mann, sieh dir das an! Darauf will ich aufbauen, es noch weiter entwickeln.’“
„Ich kam herein“, erzählt Wilson, „hörte, was sie spielten, und beschloss, dazu zu singen.“ Einen Text über eine leidenschaftliche Nacht unter einem Silbermond hatte sie schnell geschrieben. Blanchard schaute im Piety-Studio vorbei – solche Dinge passieren in New Orleans – und steuerte seinen intensiv emotionalen Trompetenpart bei. Zu guter Letzt kam Commons Spoken Word-Text, der in den bestehenden Track integriert wurde. Wie auf dem neuen Album zu hören ist, geht „A Night In Seville“ – der Live-Track, der alles inspirierte – nahtlos in die neue Studiokreation „Silver Moon“ über.
„Es passiert nicht oft“, bestätigt Fischbach, „dass zwei Dinge so perfekt zusammenwirken und auf diese Weise ein- und wieder ausblenden. Ein magischer Track.“
Wilson hat schon seit längerer Zeit die Möglichkeiten des Delta-Blues und den Einfluss ihrer Mississippi-Wurzeln entdeckt. Vielleicht waren es auch die ständigen Wiederholungen der DVD „Cadillac Records“ im Bus während der Europatournee, die ihre Band dazu inspirierten, sich auf dieses musikalische Milieu zu konzentrieren. („Sobald wir losfuhren, gab immer einer von uns den Einsatz“, meint Sewell). „Saddle Up My Pony“ ist die spannende Version einer Charlie Patton-Melodie, bei der Sewell zur Höchstform aufläuft, „Forty Days And Forty Nights“ eine fulminante Aktualisierung des Erbes von Muddy Waters.
Die trällernde Live-Version des Bossanova-Klassikers „A Day In The Life Of A Fool“ ist ein weiteres Zeugnis des Zaubers dieser Band an jenem Abend in Sevilla, und sogar Cassandra Wilson selbst war überrascht von der funkigen, entspannten Version des Lennon/McCartney-Klassikers „Blackbird“ und der sanften Interpretation von Stevie Wonders „If It’s Magic“, die im Studio entstanden.
Im Finale von Silver Pony reitet Wilson nicht in den Sonnenuntergang davon. Stattdessen singt sie mit „Watch The Sunrise“ eine neue Nummer, die ihr der Sänger John Legend als Vorschlag für eine lange geplante Zusammenarbeit schickte – ein strahlendes und unerwartetes Stück, das mehr wie ein glorioser Anfang als ein Ende klingt.