Cassandra Wilson – Loverly

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Cassandra Wilson – Loverly

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(EMI/ Blue Note) Für „Thunderbird”, ihr letztes Blue-Note-Album aus dem Jahre 2006, erkundete die Sängerin Cassandra Wilson die Grenzbereiche des Jazz mit einem vielschichtigen Ansatz von Klangmustern und Arrangements. Betreut wurden diese Aufnahmen von dem renommierten Produzenten T-Bone Burnett, unterstützt von einem erstklassigen Team von Studiomusikern, darunter Gitarrist Marc Ribot und Drummer Jim Keltner. Nun wagt sich Wilson mit „Loverly” in eine weitere, nicht minder faszinierende Richtung vor: eine so betörende wie rhythmisch komplexe Auswahl von Jazzstandards, der sie mit befreundeten Spitzenmusikern wie Marvin Sewell an der Gitarre, Jason Moran am Piano, Herlin Riley an den Drums, Percussionist Lekan Babalola und Bassist Lonnie Plaxico sowie Gastauftritten von Bassist Reginald Veal und Trompeter Nicholas Payton neuen Glanz verleiht.

„Diesmal wollte ich mit zurückhaltenden Arrangements arbeiten”, sagt Wilson, seit ihrem Bestseller „Blue Light ‘Til Dawn“ aus dem Jahr 1993 Blue-Note-Künstlerin. „Ich beschloss, mich einmal wieder an Standards zu versuchen, und zwar mit einer kleinen, kompakten Gruppe von Musikern. Ich nehme diese typischen Jazzstandards nur selten auf, aber ich mag sie gern, habe ich doch mit ihnen meine Kunst gelernt. Ich habe solche Songs studiert, habe darauf geachtet, wie andere Sänger ihnen ihren eigenen Swing verleihen. Standards zu singen ist nicht einfach. Man kann sie erst singen, wenn man sie wirklich verstanden hat. ”

Wilson nennt ein Beispiel: „Spring Can Really Hang You Up The Most”, das sie hier als meditative, sehnsüchtige Reflexion darbietet, nur von Sewell begleitet. „Den Text hatte ich vorher nie richtig verstanden, weil ich so etwas nicht erlebt hatte”, gesteht Wilson. „Ich fand den Song immer toll; ich habe ein Album von Betty Carter mit einer brillanten Version des Songs. Aber ich konnte mich erst daran wagen, als ich es emotional nachvollziehen konnte.”

Zu den weiteren klassischen Standards auf „Loverly“ zählen „Caravan”, „Gone With The Wind”, „Black Orpheus”, „Wouldn’t It Be Loverly”, „Till There Was You”, „A Sleeping Bee”, „The Very Thought Of You” und „St. James Infirmary”. Zusätzlich hat Wilson mit ihrem Team eine gemeinsame Originalkomposition beigesteuert, das Groove-betonte „Arere” (inspiriert von der Yoruba-Gottheit des Eisens und der Willensstärke), und sie brilliert mit einer geradezu umwerfenden Version von „Dust My Broom”, eine Komposition von Robert Johnson, die durch den Bluessänger und Slidegitarristen Elmore James berühmt wurde.

Wilson lud Plaxico, Sewell und Babalola zu sich nach Hause nach Woodstock ein, wo „Loverly“ langsam ins Rollen kam und „erste Songvorschläge und ein paar formale Ideen gesammelt wurden”. Wilson betont Babalolas Schlüsselfunktion während dieser Vorbereitungsphase. Der meisterhafte Percussionist aus Lagos in Nigeria lebt in London. „Ich kenne Lekan schon seit 15 Jahren, aber erst jetzt haben wir zum ersten Mal gemeinsam aufgenommen“, sagt Wilson. „Er ist ein Priester des Yoruba-Kults und kennt eine beeindruckende Menge von afrikanischen Rhythmen und weiß, wie diese rhythmischen Muster über ganz Afrika verstreut und weiterentwickelt wurden. Wir beide lieben es, die Verbindungen zwischen den Rhythmen Westafrikas und vielen Orten der westlichen Welt zu entdecken. Deswegen habe ich Lekan eingeladen, an dem Projekt teilzunehmen. Seine Aufgabe war es, bei allen Songs außer denen, die ganz straight oder balladesk waren, das westafrikanische Drum-Muster herauszufinden.”

Ein Beispiel: „Dust My Broom,” das Wilson lernte, als sie Mitte 20 war und mit der Southern Band Bluejohn spielte. Es war der erste Tag der Aufnahmesessions für „Loverly“ und sie klimperte gerade auf ihrer Gitarre, als Babalola den Rhythmus sofort als Sakara identifizierte, jenen Rhythmus, den man auf einer Sakara Frame Drum spielt, ein Instrument, das die Plantagenbesitzer verboten. „Lekan ist ein wandelndes Rhythmuslexikon”, schwärmt Wilson. „Er hört Rhythmen, die wir erst noch erfassen müssen. Er und Herlin haben sich direkt wunderbar verstanden. Vor jedem neuen Song steckten die beiden erst einmal die Köpfe zusammen und benannten die rhythmische Spielart. Wir haben uns den beiden blind anvertraut und uns dann ganz auf diese Rhythmen eingelassen.”

Für die Aufnahmesession mietete Wilson ein Haus in ihrer Heimatstadt Jackson in Mississippi und verwandelte es in ein Studio – sie brachte sämtliche Aufnahmegeräte mit und arbeitete dort mit ihrer Band sechs Tage lang von Mittag bis Mitternacht. Sie wollte gern die entspannte Atmosphäre der Sessions einfangen und eine 360-Grad-Ansicht dessen wiedergeben, was dort vor sich ging. Besonders auf der funkigen Upbeat-Version von „St. James Infirmary“ ist es ihr gelungen, dieses Gefühl festzuhalten.

Es gibt noch ein weiteres Bandmitglied, mit dem Wilson hier zum ersten Mal aufgenommen hat: Label-Kollege Moran, der bereits Anfang dieser Dekade in ihrer Band spielte. Wilson schwärmt: „Ich liebe Jason. Er ist mein absoluter Lieblingspianist. Ich mag die Art, wie er vermeintlich achtlos spielt, aber gleichzeitig sehr aufmerksam ist. Wenn er spielt, habe ich immer das Gefühl, er stürzt von einer Klippe ab, aber am Ende ist er immer an einem Punkt angelangt, der absolut Sinn macht.”

Einige der Songs auf „Loverly“ hat Blue-Note-Labelchef Bruce Lundvall vorgeschlagen. „Als Bruce hörte, dass ich ein Album mit Standards plante, schlug er Songs vor, von denen ich vorher noch nie gehört hatte“, berichtet Wilson. „Er kennt mehr Standards als jeder andere Mensch, den ich kenne. Er stellte für mich eine Liste zusammen.“ Auf dieser Liste waren altbekannte Klassiker wie „Caravan”, das Wilson jetzt mit aufregenden Solos von Sewell und Moran im Tempo angezogen hat, sowie das schwelgerische „Gone With The Wind” mit einem bemerkenswerten Opening von Sewell und einem subtilen Groove. Dies war der erste Song der Session und besticht laut Wilson durch „absolut verrückte Klavierarbeit“. Zu den weniger bekannten Stücken zählt auch „Lover Come Back”, dem Wilson den federnden Schwung der späten 40er und frühen 50er verleiht. Als Wilson in New Orleans das Album abmischte, schneite Payton herein und fügte ein paar Improvisationen hinzu.

Zu den weiteren Songs gehört das ruhige Juwel „Black Orpheus”, begleitet von Sewells sinnlicher Slidegitarre und Plaxicos hypnotisierender Bassmelodie; das cool swingende „A Sleeping Bee” aus dem Musical House of Flowers von Truman Capote und Harold Arlen; das sanft beschwingte „Wouldn’t It Be Loverly” aus My Fair Lady, einem von Wilsons Lieblingsmusicals; sowie die hinreißende Melodie von „Till There Was You” aus dem Musical The Music Man, das die Beatles bereits auf „Meet the Beatles“ gecovert hatten. „Der Song geht auf Lonnies Konto”, so Wilson. „Er fragte mich, ob ich das Stück kenne, und dann schlug er vor, wie wir es anpacken sollen. Nachdem er und Herlin zusammengehockt hatten, kam ein Chicago-Steptanz-Rhythmus dabei heraus.”

Reginald Veal hat einen Gastauftritt als Begleitung von Wilson in dem honigsüßen langsamen Duett „The Very Thought of You.” „Diesen Song wollte ich schon immer einmal aufnehmen“, sagt Wilson. „Ich finde den Text großartig und die Melodie ist wunderschön. Dies war unser allerletzter Song, wir nahmen ihn erst auf, als alle anderen aus der Band schon gegangen waren.“

Obwohl Wilson als Produzentin von „Loverly“ genannt wird, betont sie, dass die Songs in Zusammenarbeit mit der ganzen Band entstanden sind. „Ich bin eher ein Un-Produzent“, lacht die Künstlerin. „Ich frage alle nach ihrer Meinung zu den Stücken – manche halten das für einen Fehler. Aber ich gehe gern demokratisch vor. Ich freue mich über den Input, und dann spielen wir die Stücke und versuchen, die Energie und improvisierten Stimmen von jedem einzufangen.”

VÖ: 06.06.08