Camille – Ilo Veyou [Tour]

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Camille – Ilo Veyou [Tour]

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camille_cover (EMI France > Capitol Records Germany, VÖ: 14.10.2011)
Ein Kloster aus dem 12. Jahrhundert, umrundet von weitläufigen Feldern irgendwo in Frankreich. Innerhalb der Gemäuer, unter hohen romanischen Torbögen, singt eine grazile Pariserin a capella und kokettiert spielerisch mit den unterschiedlichen akustischen Möglichkeiten der architektonischen Umgebung.
Ein dröhnendes „brrr”, ein gezischtes „pssst” erhallt, gefolgt von einem inbrünstigen „wuuuh”. Abgerundete und verflachte Vokale. Silben manchmal gedehnt, manchmal genäselt. Die Songs – ob Balladen, Hymnen, Chansons, Ständchen – sind mit einer ebenso schönen wie melodisch kraftvollen Stimme gesungen, die den Zuhörer fesselt und in ihren Bann zieht. Das kirchliche Ambiente trägt seinen Teil dazu bei und rundet die Atmosphäre ab.

„Räume sind ebenfalls Instrumente, insbesondere in a capella-Projekten”, sagt Camille (Wer auch sonst?). „Für mich sind Wörter wie Klang-Trampoline. Die Art und Weise, wie sie je nach Umfeld und Situation auf- und abfedern und widerhallen…” Sie hält inne, ihre blauen Augen unentwegt mit festem Blick. „Dieses mal”, sagt sie über ihr beeindruckendes neues Album Ilo Veyou, “dieses Mal dreht sich alles um Räume.”

Als eine der aufrührerischsten Sängerinnen ihrer Epoche, wird Camille für ihre innovativen Stimmeffekte und ihre gewandte body percussion international gefeiert. Ebenso wie für ihr Talent eigenwillige Lieder aus fast schon lächerlich eingängigen Melodien zu kreieren und ihrer Manier sich scheinbar kinderleicht zwischen Englisch und Französisch zu bewegen. Mit ihren drei bejubelten Studioalben Le Sac des Filles (2002), Les Fil (2005) und Music Hole (2008) schaffte sie den Spagat zwischen immer kühneren Grenzüberschreitungen und der Bewahrung ihres aufregenden und zugänglichen Stils. Ebenso das langersehnte Ilo Veyou, dessen Potenzial gar größer ist, als die Vorschusslorbeeren es erwarten ließen.

Produziert von Camille selbst, gemixt von Maxime Leguil und Oz Fritz, und arrangiert von Clement Ducol für ein klassisches Streichquartett, das aus der Reserve gelockt wurde (zusammen mit einigen Blechbläser- und Kontrabasselementen), ist Ilo Veyou die Arbeit einer Künstlerin, die das Risiko auskostet, sich nach Kontrast sehnt und Schönheit vergöttert. Und ganz nebenbei vor kurzem Mutter geworden ist: „Jede Situation kann auf eine Weise inspirieren. Aber Mutter zu sein lehrt dich genau im Jetzt zu sein. Du musst den Abläufen folgen.“

Ilo Veyou wurde passenderweise in zwei mit Holzböden versehenen Studios, drei Kappellen, sowie dem idyllischen Kloster in Noirlac aufgenommen. „Direkte Aufnahmen”, sagt Camille, „nichts zu Konstruiertes. Ich wollte ohne Kopfhörer arbeiten und einfach die Stücke in den Räumen, die mir gefallen auswählen. Es ging darum, eine Art musikalischen Moment einzufangen.“ Die Hörer des Albums sollen die Räume hören und miterleben, was dort passierte. „Das ist nicht immer augenscheinlich”, lächelt sie, „aber ich vermute dein Unterbewusstsein wird es immer irgendwie mitbekommen.”

Derlei Gefühle lassen sich auch bei ihren Live-Auftritten erleben. In ausverkauften Konzerten an Orten, wie dem Pariser Zenith, oder dem KOKO, dem Shepherds Bush Empire und dem Roundhouse in London, konnte man teilhaben, wie Tausende Fans spontane Live-Versionen ihrer Songs mitkreieren: Auf Tribünen wurde geklatscht, gestampft, gebellt, gehupt und genüsslich miaut. Männer entledigten sich ihrer Hemden während Frauen anfingen ihre kompletten Handtaschen auszuräumen.

In verschiedenster Weise gekleidet, ob weißer Dress, auf dem projizierte Videos zu sehen sind oder verführerisches schwarzes Kleidchen, das nur knapp über ihren Po reicht, improvisiert, dirigiert und verzaubert Camille. Und sie beobachtet, denn sie ist, wie sie sagt, zugleich ihr eigener Zuschauer.

Natürlich gab es auch Features mit anderen Künstlern. Von ihrer frühen Schaffensperiode mit den französischen Bossa Nova Hipsters von Nouvelle Vague (am Auffallendsten war das Cover der Too Drunk Too Fuck von den Dead Kennedy’s) bis hin zu ihrer aktuellen Beschäftigung mit Elsa Wolliaston (der grande dame des zeitgenössischen afrikanischen Tanzes) oder ihren Gastauftritten in Paris, der Schweiz oder New York bei der jazzbeeinflussten a capella-Legende Bobby McFerrin: Camille wurde über lange Zeit hinweg von Gleichgesinnten angezogen. Während ihr kürzlich erschienenes a capella-Projekt God is Sound, in dem sie aus religiösen Gesänge verschiedener Traditionen interpretiert, wie ein Soloprojekt scheint, so wurde es dennoch gemeinsam mit den Räumen geschaffen, in denen die Aufnahmen stattfanden.

So ist es wahrlich auch bei Ilo Veyou.

„Ich fühle, dass die eigene Stimme in erster Linie im eigenen Körper widerhallt. Daher ist die eigene Stimme in einer Kirche oder einem anderen intimen Ort eine erweiterte und vertiefte Fortsetzung dieses Widerhalls. Es geht hier tatsächlich um Physik”, sagt Camille, Atheistin. „Ich denke, dass es bei Gott um Physik geht. Um die Art und Weise unserer Beziehung zur Welt.”

Camille’s Lebensästhetik ist äußerst präsent auf Ilo Veyou. In erster Linie gibt es mehr französische Songs, kaum overdubs und nur wenige Fälle in denen ihre Stimme zusätzlich als Hintergrundmusik verwendet wird (dabei antwortet und imitiert sie sich selbst, wann notwendig; einen Kinderchor hat sie selbst eingespielt). Es wimmelt von Momentaufnahmen, von Polaroidbildern für die Ohren.

„Ich vermute ein Album kann in vielerlei Hinsicht mehr theaterbezogene Elemente einbinden als ein Live-Auftritt. Jedes Lied kann in unterschiedlicher Stimmung, mit einer unterschiedlichen Stimme in unterschiedlichen Momenten aufgenommen werden. Es gibt weitaus mehr Spielraum für Kontraste.“

Die 15 selbstgeschriebenen Stücke auf Ilo Veyou sind so facettenreich wie Camille selbst. Direkt vom lebhaften Auftakt Aujourd’hui (indem sie zu sich selbst spricht während sie eine Gasse entlang geht), über den eher anregenden Titel Allez Allez mit spiegelverkehrtem Französisch („Ich habe die Stimmen im Studio umgedreht und plötzlich klang es nach einer Mischung aus Hebräisch und Arabisch, wie die Sprache des Friedens“), zur organischen Klangfarbe der Gitarrenballade Wet Boy („Ein erotisches Lied über Wasser“), durchwandert Ilo Veyou eine ganze Reihe diverser Genres und Gefühle, Inspirationspunkte und neuer Ideen.

„Ich mag Paradoxes“, sagt Camille. „Im Leben geht es um Gegensätze. Mich fasziniert, dass ein Song wie Wet Boy urplötzlich übergehen kann in einen anderen wie Mars Is No Fun (darin stellt eine Reisende fest, dass sie das vorstädtische Milton Keynes mehr schätzt als die trübe Monotonie des Weltalls). Mich fasziniert es auch, wenn Vorurteile einen dazu bringen, über Traditionen zu schmunzeln“, fährt sie fort von La France zu erzählen, einer Hymne die sie im Stile der Piaf über nationale Klischees lästernd trällert, wobei ihre launigen Phrasen einen schrillen Gegensatz zum Retro-Sound der Musik bilden.

„Ich interessiere mich sehr für Texturen und Materialien. Ich höre gerne Knistern, Atmen, alltägliche Sounds. Ich bin niemand, der Dinge perfekt machen muss. Eher reizt mich die Spannung zwischen dem organisch-natürlichen und dem technisch-synthetischen. Daher wollte ich die Streicher rhythmisch aber auch rau. Ich wollte gezupfte Streichinstrumente um einen Gegensatz zur Harmonie der Bogenführung zu bilden…“

Sie zischt verschmitzt, und lächelt. „Für die klassisch ausgebildeten Musiker war es eine sehr neuartige Art zu arbeiten. Wir haben viel voneinander gelernt.“

An anderen Stellen ist die kristalline Zartheit atemberaubend. So zum Beispiel in der minneartigen Ballade Le Berger, der Geschichte eines einsamen Schäfers der mit seinen Schafen von einer Klippe sprang und bei stürmischem Wetter unter Wasser treibt („So stelle ich mir den Klang einer Ballade vor, die dem Mittelalter entstammt – einer Umgebung in der ich nie lebte, die mich aber ähnlich wie Afrika sehr inspiriert.“). Der wunderschön artikulierte Text des verträumten Le Banquet ist trügerisch, betrachtet man das Thema des Liedes: „Es ist ein Rachelied über eine Frau, deren Mann sie und zahlreiche andere Frauen verletzt hat. Sie laden in zu einem Fest ein und verspeisen seinen Penis.“

She Was mit seiner bedächtigen Lyrik und minimalistischem Streichereinsatz erzählt von Reinkarnation und dem Austausch von Energien; L’Etourderie ist ein Minnelied über einen Menschen, der vor lauter Verliebtsein völlig abgehoben ist; das jazzige Shower mit seinem dissonanten Refrain erinnert an eine teils verrückte, teils anarchische Säuglingsstation. Message in seinem sympathischen Spieluhrstil dreht sich um die Geschichte eines langsamen Korrespondenten und endet spontan mit einem Pups von Camille: „Das war der musikalisch beste Moment“, sagt sie beschwingt. „Ich pupste im richtigen Moment, passend zum Takt des Songs, ta-da und fertig!“

Das übermütige My Man Is Married But Not To Me verrät seine Story bereits im Titel. Ein Kampf zwischen Herz und Verstand unterlegt mit anklagenden Refrains und Tempowechseln, es ist eine sehr persönliche Aufarbeitung eines verbreiteten und schmerzhaften Dilemmas: „Zu jener Zeit war mein Mann verheiratet, aber nicht mit mir,“ beichtet Camille, „jetzt bin ich nicht mit meinem Mann verheiratet, da ein verheirateter Mann immer doppelt so attraktiv für andere Frauen ist.“

In Französisch beziehungsweise Englisch gesungen unterstreichen die originellen Titel Tout dit und Bubble Lady – eine Art lautmalerischer Kindergartenreim – Camilles Liebe zur Sprache. „Ich bin der festen Überzeugung, dass die Stärke von Französisch die Aussprache seiner Konsonanten ist; es ist eine sehr rhythmische romanische Sprache, weswegen unter anderem unsere Rapmusik so gut ist. Englisch ist stärker bei den Vokalen, aber auch durch seine Eigenschaft Wortschöpfungen zuzulassen und mit ihnen zu spielen. Bubble, bubbbble, b-b-b…“ Das klingt wie Gebrabbel eines Babys.

Sie hält einen Moment inne. „Die erste Sprache ist die Babysprache“, meint sie. „Die Art und Weise, wie Babies sprechen und wie wir zu Babies sprechen. Ganz egal, ob ich Englisch oder Französisch singe, danach strebe ich. Ich versuche, diese ausdrucksstarke, kommunikative Qualität der Babysprache aus mir herauszuholen.“

Letztendlich der glorreiche Titelsong Ilo Veyou (laut mit französischem Klang auszusprechen). Lebensbejahend und botschaftsreich ist es eine stürmische Bestätigung das Liebe in vielerlei Gestalt und Form existiert. „Selbst wenn du denkst, es gibt überhaupt keine Liebe mehr für dich, rennt sie dir ständig hinterher und sie wird dich immer erwischen“, sagt Camille mit einem so selbstverständlich anmutenden Schulterzucken.

Ilo Veyou, also. Ein Album, das die Suche der Künstlerin nach ihren menschlichen Wurzeln fortsetzt, das der Menschheit – und insbesondere der Weiblichkeit – Liebe zur Stimme zelebriert. Ein Album, das der alten Tradition folgt, Musik an besonderen, intimen Orten zu machen.

Ein Album eines Phänomens namens Camille.

Ende

Jane Cornwell (Dt. Ãœbersetzung: Christoph Vogel)

Tourtermine

27.5.2012 München, Alte Kongresshalle
28.5.2012 Hamburg, Kampnagel
29.5.2012 Köln, Theater am Tanzbrunnen
31.5.2012 Berlin, UdK