(Ponderosa, VÖ: 28.04.2017)

Experimentierfreude und Eingängigkeit – für Arto Lindsay waren das niemals Gegensätze. Der Sänger und Gitarrist hat seit jeher einen Heidenspaß daran, neutönerische Klangwelten abseits des Mainstream zu erforschen und bleibt dabei doch verständlich, d.h. leicht fassbar. So auch auf “Cuidado Madame”. Der erste Longplay m t neuem Material seit “Salt” (2004) enthält avantgardistische Wagnisse genauso wie ohrwurmige Melodien, er präsentiert einmal mehr die zwei Pole von Lindsays Künstlerpersönlichkeit. Auf der einen Seite erleben wir den ungestümen und kantigen “Scary Arto”, der wie verrückt lostobt; darin spiegelt sich das Lebensgefühl seines lärmend-grellen Wohnortes New York wider. Auf der anderen Seite begegnen wir aber auch dem “Sexy Arto”, der den Zuhörer mit Sinnlichem und Sanftem verführt; darin kommt die Verbundenheit mit der zweiten Heimat Brasilien zum Ausdruck. Ein ums andere Mal ergänzen sich “Scary Arto” und “Sexy Arto” bestens. Mal komplettieren sie einander wie die Teile eines Puzzles (als Beispiel für das harmonische Zusammenfügen von Charakterfacetten sei “Grain By Grain” genannt), mal stehen die beiden wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde im Widerstreit reizvoll gegenüber (im Bossa Nova “Uncrossed”).

Der Entstehungsprozess von “Cuidado Madame” begann damit, dass Lindsay Rhythmen der Conga-ähnlichen Handtrommel Atabaque in Brasilien aufnahm. In den Ritualen der dort heimischen Candomblé Religion ist das Perkussionsinstrument nicht selten für trance-artige, spirituelle Gefühlssteigerungen unter den Gläubigen verantwortlich. Mit den gesammelten Rhythmen im Gepäck reiste Lindsay zurück nach Amerika, in einem Tonstudio in Brooklyn bildeten diese das Ausgangsmaterial für neue Songkompositionen in portugiesischer und englischer Sprache. In die ließ der Musiker mit dem Intellektuellen-Look sein Interesse für unterschiedlichste Themenbereiche einfließen. Spuren der erwähnten Candomblé-Religion findet man ebenso wie Verweise auf die Ära der so genannten “Bubble Economy” im Japan der 1980er Jahre; Financiers spekulierten seinerzeit auf Teufel komm raus – bis die Blase platzte. Ein weiteres ungewöhnliches Thema, das hier durchschimmert: die amerikanische Literaturgattung der “captivity narratives”. In sie sind einst Geschichten weißer Siedler in Neuengland eingegangen, nachdem die von Indianern gefangen genommen worden waren.

An den sechs Saiten schöpft Alleskönner Lindsay weiterhin aus einer enormen Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten. Er zeigt sich an der Akustikgitarre melancholisch und soft (”Seu Pai”), entlockt der E-Gitarre scharf schneidende Sound-Splitter (”Ilha Dos Prazeres”) und beklemmenden Aggrokrach (”Unpair”), setzt sich geräuschhaft in Szene (”Deck”) oder lässt sein verfremdetes Instrument in Freejazzer-Manier knarzen, knurren und kratzen, dass es für jeden Avantgardefan eine Freude ist (nachzuhören im Solostück “Arto Vs. Arto”). Tatkräftig unterstützt wird Lindsay bei der Eigenproduktion von Melvin Gibbs, Paul Wilson, Kassa Overall, Patrick Higgins, Ryu Takahashi und Thiago Nassif. Mit ihnen erschafft er spannende Hybridformen aus Noiserock und Latin Music.

Arthur Morgan Lindsay, so der offizielle Eintrag im Register des Standesamts, erblickte 1953 in Richmond im Bundesstaat Virginia das Licht der Welt. Aufgewachsen ist der Sohn eines Missionars allerdings in Brasilien, wo er sich schon früh für Musik sowohl aus den USA als auch aus dem Gastland begeisterte. Als junger Mann kehrte er nach Amerika heim, nach dem College- Besuch in Florida zog es ihn in die geschäftige Musikszene von New York City. Ende der 1970er Jahre zählte er dort bereits zu den führenden Köpfen auf der Lower East Side, als seine Gruppe DNA wegweisende Klänge im Rahmen der damals aufkommenden No Wave entwickelte. Auch bei der Fakejazz- Formation Lounge Lizards, den Postpunk-Pionieren der Golden Palominos und den Ambitious Lovers mischte Lindsay kräftig mit. Im Laufe der weiteren Karriere machte er gemeinsame Sache mit Brian Eno, Marc Ribot, Ryuichi Sakamoto, Bill Frisell und They Might Be Giants – um nur ein paar aus einer schier endlosen Liste von Kooperationspartnern zu nennen. Einen Höhepunkt in seiner Laufbahn stellt fraglos die Auszeichnung mit einem Latin Grammy dar, den erhielt das Multitalent 2002 für den Produzentenjob bei Marisa Montes Meilenstein “Memórias, Crônicas e Declarações de Amor”.

2014 widmete Ponderosa Music & Arts dem unruhigen Geist mit der “Encyclopedia of Arto” eine umfassende Werkschau. Auf demselben Label fügt Arto Lindsay seiner Diskographie jetzt mit “Cuidado Madame” ein weiteres Highlight hinzu. Seinen Titel verdankt das Album übrigens dem gleichnamigen Kinofilm von Júlio Bressane aus dem Jahr 1970 (englischer Verleihtitel: “Beware, Madame”). Darin erzählt der brasilianische Regisseur die Geschichte eines Dienstmädchens, das lustvoll und brutal eine Herrin nach der anderen hinmordet …

Homepage von Arto Lindsay // Facebookseite von Arto Lindsay

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