Milton Nascimento & Belmondo Brothers

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Milton Nascimento & Belmondo Brothers

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(b-Flat/discograph/alive!) Brasilien zählt zu den führenden Musiknationen der Gegenwart und Milton Nascimento zu den originellsten Komponisten des Landes. Wie seine Heimat so ist auch sein musikalisches Schaffen eine Mischung unterschiedlichster Kulturen, sein Werk steckt voller Kontraste. Der Künstler aus dem brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais (dessen Fläche übrigens so groß ist wie ganz Frankreich) verschmilzt seit jeher diverse Spielarten und verweigert sich somit dem vorschnellen Einsortieren in nur eine Stilschublade. Stattdessen erfindet er lieber einen eigenen Klangkosmos aus unzähligen Querverweisen.

Im “Schmelztiegel” Brasilien ist Milton Nascimento unter anderem mit afrikanischen und europäischen Einflüssen aufgewachsen. Sie sind in seiner Musik ebenso wiederzufinden wie die Sound-Schöpfungen, die man gemeinhin mit seiner Heimat verbindet: Samba, Bossa Nova und Toadas. Darüber hinaus lässt sich der Autodidakt, der erstmals 1966 mit einem Song für Elis Regina (“Canção do Sal”) von sich reden machte, gerne von US-Hits, beatleskem Pop, Jazz, der Folklore vom Amazonas, liturgischen Hymnen oder auch der Klassik seines Landsmannes Heitor Villa-Lobos inspirieren. Sentimentale Balladen von Edith Piaf, Doris Day oder Sarah Vaughan schätzt er genauso wie politisch motivierte Stücke mit subversivem Text. Und die Zusammenarbeit mit Jazzgrößen wie Wayne Shorter, Pat Metheny, Ron Carter, Herbie Hancock und Jack DeJohnette (auf dem Album “Angelus”, 1994) machte dem Sänger mit dem unverkennbaren Falsett genauso viel Spaß wie Ausflüge ins Pop- und Folk-Fach an der Seite von Peter Gabriel, Duran Duran, Jon Anderson, James Taylor und Paul Simon. Kurzum: Den Grammy-Preisträger (“Crooner”, 1999) zeichnet eine unstillbare Neugier, eine wissbegierige Vielseitigkeit aus, er stellt sich mit Begeisterung immer wieder neuen Herausforderungen. Kein Wunder, dass es “Bituca”, so der Spitzname, bei derart vielen Interessen nie in den Sinn kam, sich auf eine Stilrichtung zu beschränken.

In den Belmondo-Brüdern hat Nascimento jetzt geistesverwandte Querdenker gefunden, sie sind wie er niemals auszurechnen. Die Karriere der französischen Instrumentalisten, die Arbeiten mit so unterschiedlichen Leuten wie Miles-Davis-Intimus Gil Evans, Filmkomponist Michel Legrand, Jazzviolinist Stéphane Grappelli und Elektroniktüftler DJ Frédéric Galliano umfasst, verlief bisher stets unvorhersehbar. 1993 gründeten Stéphane (Trompete, Flügelhorn) und Lionel (Saxophon, Klarinette, Flöte) ein Hardbop-Quintett, ein Jahr später begleiteten sie Dee Dee Bridgewater auf der Bühne und im Studio (“Love And Peace: A Tribute To Horace Silver”). Es folgten mehrere Veröffentlichungen unter eigenem Namen (“For All Friends”, “Infinity”, “Live au Plana”). 2003 interpretierten die in Paris ansässigen Geschwister dann auf dem mehrfach ausgezeichneten Album “Hymne au Soleil” überraschend Stücke von Klassik-Komponisten wie Maurice Ravel, Gabriel Fauré, dessen Schülerin Lili Boulanger und Organist Maurice Duruflé im Jazz-Kontext.

Nicht weniger verblüffend fiel “Wonderland”, auf ihrem eigenen Label B-flat Recordings erschienen, im Jahre 2004 aus. Hier coverten die Franzosen Soulklassiker von Motown-Pionier Stevie Wonder. Das Doppelalbum “Influence” schließlich war 2005 Yusef Lateef gewidmet, die Jazzlegende wirkte im hohen Alter von 85 Jahren sogar noch selbst mit und steuerte zwei brandneue Titel bei.

Und jetzt kooperieren die Belmondo-Brüder also mit Milton Nascimento. Gemeinsam hat man einige von Nascimentos bekanntesten Titeln neu aufgenommen. “Travessia”, “Milagre dos Peixes”, “Canção do Sal” und andere Melodien wurden dafür in enger Zusammenarbeit mit Arrangeur Christophe Dal Sasso, dem belgischen Pianisten Eric Legnini und dem Orchestre National d’Ile-de-France auf die Essenz ihrer Noten reduziert. Milton Nascimento selbst steuerte Gesangsparts bei und sagte im Anschluss an die Studioeinspielung, dass er die neuen Orchestrationen (im Original waren sie von Wagner Tiso) wie eine “Kathedrale aus Musik” erlebt habe, in der seine Stimme schwerelos vibrierte. Nach der Bearbeitung erhält nun auch der Zuhörer die Gelegenheit, einige der beliebtesten Beispiele der Musica popular brasileira im veränderten Klangzusammenhang für sich wiederzuentdecken.

Sehr überrascht zeigt sich Milton Nascimento darüber, dass Lionel Belmondo “Ponte de Aria” und “Saudade dos Aviões da Panair” zu einem Track zusammenfasste. Was Lionel zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste: Nascimento hatte einst beide Stücke an einem Tag geschrieben. Der brasilianische Komponist erinnert sich daran, wie ihm eines der Stücke seinerzeit ganz spontan, geradezu überfallartig am Piano in den Sinn kam, während er am anderen stundenlang hart arbeiten musste. Sein junger französischer Kollege hat nun ganz instinktiv erfasst, dass beide stimmungsmäßig zusammengehören.

Lionel Belmondo ist ein ausgewiesener Fachmann, wenn es um die Musikwerke der Post-Impressionisten und traditionelle Orgelmusik aus Frankreich geht. Das hat er bereits bei “Hymne au Soleil” unter Beweis gestellt, beim aktuellen Album kamen ihm seine Kenntnisse nun ein weiteres Mal zupass. So konnte er sie etwa in einem von César Franck inspirierten Titel nutzen. Und in eine Adaption von Maurice Ravels “Berceuse sur le nom de Gabriel Fauré”, ursprünglich für Geige und Klavier verfasst, gingen seine Klassikstudien ebenfalls ein. Milton Nascimento ist hier am Akkordeon zu hören.

Mit einer diebischen Freude werden auf dem vorliegenden Album Stilgrenzen eingerissen. Puristen dürfte der unbekümmerte Umgang mit vormals klar getrennten Musikrichtungen eher verstören, stiloffene Zeitgenossen hingegen wird das Aushebeln scheinbar festgefügter Genres und Gattungen wohl uneingeschränkt erfreuen, fördert es doch durchweg spannende Klangergebnisse zu Tage. So fruchtbar kann der Gedankenaustausch zwischen Musikern unterschiedlicher Stilherkunft sein! So anregend und erfrischend ist es, wenn man einmal alle Demarkationslinien hinter sich lässt!

VÖ: 06.06.08

Line-Up:

Milton Nascimento: Vocals, Guitar
Stephane Belmondo: Trumpet, Bugle
Lionel Belmondo: Saxophone, Clarinet
Eric Legnini: Piano
André Ceccarelli: Drums
And Paris National Orchestra’s Strings Section