Musica Nuda – 55/21

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Musica Nuda – 55/21

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(Blue Note, VÖ: 10.10.08)
Die zeitgenössische Musik kennt einige schlagkräftige Paarungen von höchst erfrischender Wirkung. Denken wir mal an die Wucht der White Stripes oder an die beiden furios aufspielenden Gitarristen Rodrigo Y Gabriela. Virtuos und kraftstrotzend hat in jüngster Zeit auch ein italienisches Duo sowohl in ihrer Heimat als auch in Frankreich für Furore gesorgt: Musica Nuda. Allein mit Stimme und Bass verwandeln sie jede Bühne in einen Hexenkessel, in dem sie aus Jazz, Chanson, Pop, Soul und einem kräftigen Schuss Poesie eine höchst eigenwillige und höllisch scharfe Rezeptur brauen. Man werfe nur mal einen Blick auf YouTube und schaue sich eine Performance von Musica Nuda an, verfolge die sich wie züngelnde Flammen windende Sängerin Petra Magoni, deren Stimme schimmern kann wie pure Glut, aber auch Tempo aufzunehmen vermag, als wäre der Teufel hinter ihr her. Dazu kommt der Brillen- und Bartträger mit dem schönen Namen Ferruccio Spinetti, der seinen Kontrabass im einen Moment wie ein Derwisch traktiert, im nächsten schon die Saiten bezirzt wie ein Schlangenbeschwörer. Mit ihrem Blue-Note-Debüt „55/21“ legen Musica Nuda nun ein Album vor, das alle Ingredienzen besitzt, nun auch auf internationaler Ebene für einen Flächenbrand zu sorgen.
Musica Nuda hat eigentlich der Zufall zusammengeführt. 2003 haben sich die Wege der beiden Musiker in der italienischen Jazzszene erstmals gekreuzt. Die Sängerin Petra Magoni, liiert mit dem Pianovirtuosen Stefano Bollani, kannte Ferrucio Spinetti von dessen Band Avion Travel. Nachdem sie eine kleine Tournee durch ihre Heimatregion, die Toskana, vorbereitet hatte, war ihr Begleitgitarrist plötzlich erkrankt und so hat sie Ferruccio Spinetti gefragt, ob er kurzfristig einspringen könne – wenigstens für das erste bereits anberaumte Konzert. Dieses quasi improvisierte Konzert war ein so überraschend gelungener Abend, dass sich die Sängerin und der Bassist als Duo zusammentaten und in wenigen Wochen einige ihrer Lieblingssongs aufnahmen, die den Kern ihres ersten Albums formen: „Musica Nuda“. Ein trefflicher Name, den sich das Duo ausgewählt hatte, denn was die beiden machen, das ist Musik bis aufs Skelett entblößt. Gleichwohl füllen Musica Nuda mit ihren Songs den Raum, wie es unter diesen Prämissen kaum möglich scheint. Das liegt einerseits daran, dass Petra Magoni ein wahres Energiebündel ist. Ihre Stimme ist nicht nur himmlisch schön, immer wieder blitzt auch ihr unbändiger Humor auf. In Ferruccio Spinetti hat sie ein Pendant, das ihr in punkto Dynamik und diabolischer Spielfreude wahrlich ebenbürtig ist.

Mit unglaublicher Dynamik hat sich auch die Karriere des Duos entwickelt. Ihr zweites Werk, „Musica Nuda 2“, erschien bereits im März 2006, drei Monate später folgte die DVD „Musica Nuda: Live In Paris“ und im September 2007 das Live-Album „Musica Nuda – Live À Fip“. Frisch von Blue Note Frankreich unter Vertrag genommen, erscheint nun mit „55/21“ das musikalisch bis dato abenteuerlichste Unterfangen von Magoni & Spinetti. Dabei decken die 17 Songs ein erstaunliches Spektrum ab: pfiffige italienische Chansons wie „Pazzo il mondo!?“ oder das wahnwitzig schnell vorgetragene „Bocca di rosa“ wechseln sich ab mit wunderbar romantischen Momenten wie der Adaption von Jaques Brels „La chanson des vieux amants“, „La canzone dei vecchi amanti“, bei der Stefano Bollani die beiden einfühlsam am Piano begleitet. Die Akzente durch Gastmusiker bereichern dieses Album zweifellos: Gianluca Petrella etwa verleiht mit seiner Posaune Lucio Battistis „Si viaggiare“ mehr Tiefe und der Gitarrist Sanseveroni, Franzose mit neapolitanischen Vorfahren, verleiht der Interpretation von Henri Mancinis „It Had Better Be Tonight“ seinen typischen Gypsy-Swing. Jaquelin Higelin, französischer Pop-Legionär erster Güte, macht hier ebenfalls seine Aufwartung und interpretiert mit schnarrender Stimme sein „Crocodail“ als cooles Duett. Die Eigenkompositionen aus dem Hause Musica Nuda wie „Fronne“ und „Km e dolori“ nehmen sich nicht weniger aufregend aus als ihre forschen Variationen auf Klassiker von Antonio Carlos Jobim („Io so che ti amero“ mit der Gaststimme des italienischen Schauspielers Tony Laudadio), von den Beatles („While My Guitar Gently Weeps“) und Ray Noble („The Very Thought Of You“). Musica Nuda gestalten mit einfachsten Mitteln ein Fest der Sinne. Eine der großen Blue-Note-Entdeckungen der Saison.