Sven Helbig – Pocket Symphonies

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Sven Helbig – Pocket Symphonies

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Pocket Symphonies Booklet neu.indd (Deutsche Grammophon, VÖ: 22.02.2013)
Wer den in Dresden lebenden Komponisten und Produzenten Sven Helbig kennt, weiß, dass er nicht auf die kurzlebige Verführungskraft des Zeitgeistes reagiert, sondern im Gegenteil nach dem Bleibenden fahndet, das dem Vergänglichen trotzt. Mit seinen neuesten Kompositionen, den „Pocket Symphonies“ ist ihm dies auf beeindruckende Weise gelungen. Sinfonische Perlen im Format von Songs, kurz, griffig und doch von der Wucht und Tiefe großer klassischer Sinfonien, welche die Kraft und Herrlichkeit der Jahrhunderte atmen.

Natürlich, man kann diese Stücke ohne weiteres zwischen zwei U-Bahn-Stationen weghören, sie taugen hervorragend als hochwertiger Soundtrack für den Alltag. Man kann sich aber auch in ihnen ausbreiten, den Augenblick ausdehnen und sich über die Unumkehrbarkeit der Zeit hinwegsetzen. In diesen zwölf kurzen Stücken bittet das Hier und Jetzt die Ewigkeit zum Tanz.
Den zwölf kurzen Stücken für Orchester und Klavierquartett liegen ganz unterschiedliche Bilder zugrunde. Eines haben sie indes alle gemeinsam. Sie erinnern an Filmmusik. Diese einprägsame Bildsprache war von Helbig beabsichtigt. „Harmonien und Melodien, die etwas erzählen wollen, werden nur noch im Film verwendet. Auf der Bühne ist das ja verpönt. Doch wohin will man nach Stockhausen mit der sogenannten Neuen Musik noch gehen? Sowie man eine schöne Melodie schreibt, die zudem noch reflektiert, was man als heutiger Künstler empfindet, entsteht die Assoziation zum Film. Viele Komponisten wären total verunsichert, wenn man ihre Musik mit Filmmusik vergleichen würde.
Ich finde das hingegen schön, denn diese Stücke sind kleine Spaziergänge durch das Leben.“
Sven Helbig wuchs in Eisenhüttenstadt auf, ging kurz nach der Wende nach New York und lebt heute in Dresden. Seine sinfonischen Bilder stehen in engem Zusammenhang mit Helbigs Leben, seinen Erfahrungen, Sehnsüchten und auch Leerstellen zwischen den Zeiten, Systemen und Kontinenten. Gerade das Stück „Eisenhüttenstadt“ verdeutlicht, wie aus der Kraft seiner Assoziationsketten Klang hervorgeht. „Die Komposition beschreibt den Moment, als ich nach 20 Jahren wieder an die Orte zurückkehrte, wo meine Großeltern ihren Garten hatten oder ich zur Schule gegangen war. All das fand ich in völlig verändertem Zustand. Es fehlten nicht nur die Häuser, sondern die ganze Idee von der Stadt war verschwunden. Meine Großeltern waren mit 38 Jahren nach Eisenhüttenstadt gezogen, weil meine Oma keine Kohlen mehr schleppen wollte und es dort Fernwärme gab. Das war ja eine am Reißbrett entstandene Planstadt, die mit Menschen aus der ganzen Republik bevölkert werden musste. Als ich dort zur Welt kam,
war niemand älter als 40. Es gab keinen einzigen alten Pflasterstein, der an Gestern erinnert hätte. Die Idee der ersten sozialistischen Stadt, die auf den Menschen abgestimmt war, ging nur in eine Richtung: nach vorn. Als in den siebziger Jahren das Geld ausging, verwässerte diese Idee. Jetzt ist nichts mehr davon da. Schlimmer noch, dieses Konstrukt kann nicht charmant altern. Da ist keine angenehme Morbidität, sondern einfach nur Schutt. Wo das Haus meiner Großeltern stand, wächst jetzt Unkraut. Alles ist weg, da bleibt nichts übrig, was man noch pflegen könnte. Deshalb habe ich in das Stück ein Porzellan-Glockenspiel eingebaut, das die Verklärung einer versunkenen Zeit einfängt. Das Stück trägt den Namen ‘Eisenhüttenstadt‘, weil es diesen Ort und Tag, der so viel in mir bewegt hat, einfängt.“
Zu der Erkenntnis, dass Musik am besten jenseits gängiger Begrifflich-keiten funktioniert, gelangte Sven Helbig früh durch seine unterschiedlichen Projekte. Als Schlagzeuger groovte er auf beiden Seiten des Atlantik, 2003 produzierte er das Projekt „Mein Herz Brennt“ nach Songideen von Rammstein, ein Jahr später führte er mit den Pet Shop Boys „Battleship Potemkin“ auf, und 2009 nahm er als Produzent mit dem Fauré Quartet deren Album „Popsongs“ auf.
Die Reibung aus der Geborgenheit des Vergangenen und den Herausforderungen der Gegenwart gehört zu seinen zentraen Motiven. In diesem Kontext sind Helbigs kleine Sinfonien ganz groß, denn sie dehnen sich innerhalb ihres Rahmens unablässig aus. Die Motive werden nicht überfrachtet, sondern ordnen sich im Ohr, auf dass sie dort verweilen können, auch wenn der letzte Ton verklungen ist. Helbigs Musik verhält sich damit antizyklisch zur gesellschaftlichen Entwicklung. Immer mehr Information wird in immer weniger Form gegossen, die Informationsträger werden immer kleiner, die Informationsdichte wird immer größer. Helbig hingegen nimmt trotz der kleinen Formate eine Informationsminimierung gegenüber einer Maximierung der Form vor.
Mit diesem konsequenten Weg der Vereinfachung will er eben nicht nur den avancierten Klassik-Kenner erreichen, sondern auch Hörer, die mit klassischer Musik weniger vertraut sind. „Wenn man eine dreieinhalbminütige Sinfonie schreibt, entsteht automatisch ein Song“, lautet sein Credo. „Es gibt da eine genetische Verwandtschaft, nur dass man in einem Song in wenigen Takten ausdrücken muss, wofür man in der Sinfonie einen ganzen Satz hat. Wenn man eine Sinfonie aber in allen Dimensionen von Länge, Dynamik und Affekten staucht, bleibt ein Song übrig. Ob man will oder nicht. Es geht gar nicht anders. Insofern sind die Pocket Symphonies tatsächlich sinfonische Songs.“
Für diesen Zyklus von zwölf sich aufeinander beziehenden sinfonischen Songs hat sich der Komponist
hochrangige Mitstreiter gesucht. Der estnisch-amerikanische Dirigent Kristjan Järvi hat fast alle großen Orchester der Welt dirigiert und war Mitbegründer des renommierten Absolut Ensemble. Gegenwärtig leitet er die MDR Leipzig Radio Symphony, die auch auf dieser Aufnahme spielt. Järvi nannte die Pocket Symphonies „probably one of the best things I’ve ever done“.
Außerdem setzte Helbig für die Einspielung seine Zusammenarbeit mit dem Fauré Quartett fort, die bereits im Jahr 2010 mit dem ECHO „Klassik ohne Grenzen“ ausgezeichnet wurde.
„Pocket Symphonies“ ist die Antithese zum gängigen Crossover. Es ist ein organisches, von innerer Logik und künstlerischer Notwendigkeit getragenes Stück Musik, das die Möglichkeiten der Aneignung von Klassik und Pop auf spektakulär unspektakuläre Weise zu einer Einheit führt, die jedes Nachdenken über konventionelle oder neue musikalische Kategorien verbietet.

LIVE-TERMINE
25. Februar 2013 Dresden, Albertinum
26. Februar 2013 Berlin, Yellow Lounge
16. März 2013 Göhren, Festspiele Mecklenburg-Vorpommern