Defne Åžahin – Unravel

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Defne Åžahin – Unravel

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DefneSahin_unravel_Cover (Fresh Sound Records, VÖ: 27.05.2016)

VIDEO: Defne Åžahin – Echoes of a Dream

„Ich fühle mich schnell in verschiedenen Ländern zuhause“, beschreibt Defne Şahin ihre kosmopolitische Mentalität. In Berlin wurde sie geboren, eine Weile verbrachte sie in Barcelona und im brasilianischen Salvador da Bahia. Von 2011 bis Mitte 2012 pendelte die Sängerin, Komponistin und Songtexterin zwischen Berlin und Istanbul, dann zog sie nach New York. Dank Stipendien des DAAD und der Heinrich Böll Stiftung konnte sie zwei Jahre an der Manhattan School of Music studieren, unter anderem bei Theo Bleckmann und Gretchen Parlato. Parallel dazu stürzte sich Şahin in die pulsierende Szene der Jazz-Metropole. Sie trat in Clubs wie dem Cornelia Street Café und der Rockwood Music Hall auf, ebenso in der legendären Carnegie Hall. Sie spielte mit jungen und erfahrenen Musiker*innen, darunter Shai Maestro, Marike van Dijk und Jay Clayton. Auch nach dem Abschluss ihres Masters blieb Defne Şahin erst mal in New York. Nicht zuletzt, um hier ihr neues, zweites Album Unravel mit jenen Kollegen aufzunehmen, die sie im Lauf der Zeit kennen- und schätzen gelernt hatte. Die Rolle des Produzenten und Co-Arrangeurs übernahm Guillermo Klein; über ihn und die anderen Beteiligten später mehr.

„Mein Ziel war, verschiedene Welten auf dem Album zu vereinen“, beschreibt Defne Şahin ihre Kernidee zu Unravel (auf Deutsch: enträtseln, entfalten). „Der Titel steht für Entdeckungen, die nicht vorhersehbar oder planbar sind“, erklärt sie, „wie die meisten wirklich guten Begegnungen während einer Reise. Das Wort symbolisiert für mich auch Mut und Geduld, sich auf diese Reise und ihre Überraschungen einzulassen.“ Şahin zieht eine Parallele zur Improvisation im Jazz, zu deren zentralen Elementen es gehört, neugierig zu sein und anderen zuzuhören. Mit improvisierter Musik kennt sie sich aus, immerhin studierte sie seit 2006 am Jazzinstitut Berlin unter anderem bei Kurt Rosenwinkel und John Hollenbeck.

Unravel ist eine musikalische Reise, die um den halben Globus führt und Defne Şahins weiten musikalischen Horizont reflektiert. Orientalische Einflüsse zeigen sich in typischen Melodielinien, arabesken Verzierungen und ungeraden Grooves. Das vom brasilianischen Songschreiber Djavan geliehene Maçã lockt mit Leichtigkeit, den Jazz-Standard Skylark hat Şahin eigenwillig arrangiert und harmonisch sowie um 7/8-Grooves bereichert. Zu Shakespeares Sonnet 18 schneiderte sie ein elegantes Klanggewand, das die Poesie des Dichterfürsten umspielt. Bei der Komposition des Titelsongs ließ sich Şahin sogar von Maurice Ravels Gaspard de la nuit Inspirieren. Natürlich steht ihr flexibler Gesang (fast) immer im Mittelpunkt. In manchen ruhigeren Songs vermittelt sie eine nachdenkliche Stimmung, dynamische Stücke wie Oriental Path nutzt Şahin, um sich von komplexen Melodien in freiere Passagen aufzuschwingen. Selbst dann bewahrt sie ihr warmes Timbre, ihr sicheres Gespür für geschmackvolle Wendungen und Harmonien.

Den Produzenten von Unravel, Guillermo Klein, hatte Şahin schon 2009 in Berlin kennengelernt, als er am Jazzinstitut einen Workshop gab. Der gebürtige Argentinier studierte am Berklee College, wirkte danach in New York und Buenos Aires, unterrichtete in Barcelona, ging wieder in die USA, arbeitete mit Chris Cheek, Jeff Ballard, Miguel Zenón und anderen. „In Barcelona hatten wir uns leider verpasst, aber schließlich 2012 in New York wieder getroffen“, erzählt Şahin. „Mich begeistert sein Zugang zur Musik und wie unmittelbar er mit Musikern umgeht. Schon vor den Aufnahmen hat er mit mir an den Stücken gefeilt, aber nie auf seinen Vorstellungen beharrt.“

Aus Kuba kam Pianist Fabian Almazan nach New York. Seit 2011 ist er mit der Terence Blanchard Group nahezu weltweit auf Tour, darüber hinaus spielte er u.a. mit Paquito D’Rivera, Christian Scott, Stefon Harris und Ambrose Akinmusire. 2014 veröffentlichte er sein Album Rhizome bei Blue Note. Bassist Petros Klampanis wurde vom JazzTimes Magazin als „beeindruckender Bassist und Komponist“ bezeichnet. Er wuchs auf der griechischen Insel Zakynthos auf, kam über Athen und Amsterdam in die USA und arbeitete seit 2008 u.a. mit Greg Osby, Ari Hoenig und dem Greek Public Symphony Orchestra. Drummer Henry Cole wurde in Puerto Rico geboren, studierte dort klassische Perkussion sowie Jazz in Boston. In den letzten Jahren spielte er mit Miguel Zenón, Gary Burton, Chris Potter, Kenny Werner u.a. Aus Berlin stammt der Gitarrist und Klangtüftler Keisuke Matsuno, der sich seit 2010 in der New Yorker Szene bewegt, aber auch in Luzern und Weimar studiert hat. In den USA spielte er mit Dave Liebman, Joe Lovano und Wayne Krantz, in Deutschland u.a. mit Nils Wogram.

„Verglichen mit dem vorherigen Album Yaşamak geht es auf Unravel mehr um Stimmungen“, sagt Defne Şahin. „Ich habe jetzt ein anderes Verständnis von musikalischem flow und der Verdichtung verschiedener Stile.“ Ihre künstlerische Entwicklung zeigt sich auch in der emotionalen Spannweite von Unravel. Sie reicht von Lebensfreude über Sehnsucht bis zu Melancholie. Neben dem Titelstück markiert Lobna sicher einen Schlüsselmoment der Platte. Şahin schrieb das Lied über Mut und Verzweiflung unter dem Eindruck der Gezi-Proteste in Istanbul. „Ein Freundin von mir wurde während einer Demonstration von einer Tränengas-Kartusche am Kopf getroffen und lag 18 Tage im Koma. Sie musste Sprechen und Schreiben neu lernen und hat seitdem gesundheitliche Probleme.“ Solche sehr persönlichen Songs sind neu in Şahins Repertoire. „Früher dachte ich, es wäre zu direkt, wenn ich meine eigenen Texte singe, ich würde dadurch zu viel über mich preisgeben. Inzwischen empfinde ich es spannend, eigene Geschichten zu erzählen. Dazu hat mich auch ein Zitat von Ilja Trojanow ermutigt, das lautet: Jeder Mensch ist ein Geheimnis. Dies gilt umso mehr für einen Menschen, dem man nie begegnet ist.“

Defne Şahins Großeltern kamen aus der Türkei nach Berlin und hatten eine Bäckerei im damals noch keineswegs hippen Neukölln. Defnes Eltern studierten zunächst in Ankara Germanistik, zogen dann ebenfalls nach Berlin und arbeiten hier als Lehrer. Die Neugier ihrer Tochter auf neue Eindrücke und andere Umgebungen förderten sie bereits früh. Mit drei Jahren erhielt Defne Tanz- und Musikunterricht, mit 16 ging sie Rahmen eines Schüleraustauschs nach Philadelphia und sang in der Schul-Bigband. Auch sonst war sie viel unterwegs. „Unsere Familie ist schon in der Türkei ziemlich weit verstreut, dadurch fuhren wir selten an den gleichen Ort“, erinnert sich Şahin, „zudem haben wir in den Schulferien immer andere Länder bereist.“ Kein Wunder, dass sie mittlerweile fünf Sprachen spricht, von denen sie auf Unravel immerhin drei plus ein lautmalerisches Phantasie-Idiom nutzt.

Mit ihrer selbstbewussten künstlerischen Haltung und ihrem Talent, sich einerseits in andere Umfelder einzufügen und gleichzeitig die eigene Identität zu bewahren, könnte Defne Şahin eine Vorbildrolle einnehmen. Sicher hätte sie nichts dagegen, „aber ich arbeite nicht dafür, ein Beispiel für kulturelle Aufgeschlossenheit zu sein. Sie entspricht einfach meiner tiefen inneren Überzeugung, meiner Art zu leben und zu denken.“

Lineup:
Defne Åžahin: vocals, comp.
Fabian Almazan: piano
Petros Klampanis: bass
Henry Cole: drums

special guests:
Keisuke Matsuno: guitar
Guillermo Klein: vocals, piano

www.defnesahin.com

Im Frühjahr und Sommer 2016 ist Defne Şahin Artist in Residence in der Kulturakademie Tarabya, Istanbul.

Release-Konzerte
23. April 2016 jazzahead!, Bremen – www.kulturkirche-bremen.de – Sets: 19:30, 21:15, 23:00 Uhr
Eintritt 8-14 Euro
24. April 2016 A-trane, Berlin – www.a-trane.de – Konzertbeginn um 21:00 Uhr – Eintritt: 10-15 Euro
16. September 2016 Bürgerhaus Kalk, Köln.