Arto Lindsay – Encyclopedia of Arto

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Arto Lindsay – Encyclopedia of Arto

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Cover_Encyclopedia (Ponderosa, VÖ: 06.06.2014)

Mit seinem sophisticated look wirkt Arto Lindsay bisweilen wie ein weltfremder Intellektueller, wie ein Denker im Elfenbeinturm, und in der Tat besitzt er einen übereifrigen Geist, mit dem er gern verwegene Theorien entwirft und Sachzusammenhänge kühl analysiert. Doch es gibt auch noch den anderen Arto Lindsay, den Sinnenfreuden zugeneigten Genussmenschen und verspielten Kindskopf, der spitzbübisch aus den runden Gläsern seiner Akademikerbrille hervorguckt. Verstandesarbeiter und Träumer, Bildungsbürger und Bonvivant – beides trägt der US-Amerikaner in sich und beides wird von “Encyclopedia of Arto” in ausgewogener Form widergespiegelt. Dies Doppelalbum deckt in von Lindsay selbst ausgewählten Stücken all seine Persönlichkeitsmerkmale ab und liefert zugleich einen guten Ãœberblick über das vielseitige Soloschaffen.

Disc 1 der Retrospektive versammelt ein Dutzend Highlights der Soloalben “O Corpo Sutil (The Subtle Body)”, “Mundo Civilizado”, “Noon Chill”, “Prize”, “Invoke” und “Salt”. Es gibt hier ein Wiederhören mit Titeln der Periode 1996 bis 2004, die der Sänger/Gitarrist mit Kollegen wie Amedeo Pace (Blonde Redhead), Marisa Monte, Caetano Veloso, Vinícius Cantuária und Kassin gemeinsam geschrieben hat. Darin treffen auf einzigartige Weise Rhythmen aus der brasilianischen Popularmusik auf moderne Elektro-Sounds, wie man sie aus New Yorks Avantgardeszene kennt. Das Ergebnis dieser Begegnung: ein zeitgenössischer Latinpop feinster Güte.

Völlig anders tönt dagegen die Art brut auf Disc 2. In Livemitschnitten aus dem Techno-Club Berghain und dem Szenetreff HBC in Berlin sowie Pete’s Candy Store in Brooklyn erleben wir Arto Lindsay da als unerschrockenen Experimentator, dem kein Krach zu schmerzhaft, keine Atonalität zu schrill ist. Den Kontrast zwischen seiner verletzlich-sanften Stimme und schmirgelnden Saitenklängen spielt er in diesen Solo-Performances von 2011/12 reizvoll aus. Erstmals veröffentlicht werden in diesem Rahmen der Track “Pony” und eine famose Coverversion von Chico Buarques “Estação Derradeira”, zudem legt der Klangabenteurer spannende Bühnenfassungen der Fremdtitel “Erotic City” (Prince) und “Simply Beautiful” (Al Green) vor, die sich von den früheren Studiofassungen auf “Mundo Civilizado” (1996) ganz wesentlich unterscheiden.

Arthur Morgan Lindsay, so der Taufname, erblickte 1953 in Richmond, Virginia das Licht der Welt, aufgewachsen ist der Missionarssohn jedoch in Brasilien, wo er sich schon früh für Musik sowohl aus der US-Heimat als auch aus dem Gastland begeisterte. Als junger Mann kehrte er nach Amerika zurück und besuchte zunächst das Eckerd College in St. Petersburg, Florida, bevor ihn dann die umtriebige Kulturszene New Yorks an die Ostküste lockte. Ende der 1970er Jahre stieg der begeisterungsfähige Nachwuchsmusiker zu einer der zentralen Figuren in den Avantgardekreisen der Lower East Side auf. Seine erste Gruppe DNA gab zwar kein einziges offizielles Album heraus, allein mit ihren Live-Auftritten war sie jedoch wegweisend für die damals gerade aufkeimende No Wave-Bewegung. Anschließend spielte Lindsay Fakejazz mit den Lounge Lizards und Postpunk bei den Golden Palominos. Als Bandleader der Ambitious Lovers arbeitete er ab 1984 dann an einer bis dahin noch nicht gehörten Hybridform aus brasilianischem Pop und subversivem Noise-Rock (herausragend gelungen etwa in einer Bearbeitung von Dorival Caymmis “Dora”).

Im Laufe der inzwischen 35 Jahre andauernden Laufbahn kam es zu Zusammenarbeiten mit so illustren Größen wie Brian Eno, Marc Ribot, Ryuichi Sakamoto, Bill Frisell, John Lurie, Fred Frith, Bill Laswell, John Zorn und They Might Be Giants. Lindsay komponierte für Filme und Tanzaufführungen, produzierte seine Landsleute Laurie Anderson und David Byrne, betreute brasilianische Stars wie Tom Zé, Gal Costa und Carlinos Brown im Studio. 1989 war er als Klangdesigner entscheidend an Caetano Velosos Album “Estrangeiro”, einem Wendepunkt in dessen Diskographie, beteiligt. 2002 durfte Lindsay einen Latin Grammy als Produzent von Marisa Montes Platinwerk “Memórias, Crônicas e Declarações de Amor” mit nach Hause nehmen. Eine in jeder Hinsicht verdiente Anerkennung!

Mit “Encyclopedia of Arto” liegt nun eine Werkschau in Auszügen vor, die ausschließlich den Soloarbeiten der letzten zwanzig Jahre gewidmet ist. Der repräsentative Querschnitt zeigt anschaulich, wie Lindsays unterschiedliche Interessen einander mit der Zeit immer mehr durchdrangen und schließlich in einen durch und durch eigenwilligen Personalstil mündeten. Diese besondere Musikmischung gehört ihm ganz allein.